Rede, Rage, Resignation

TRIER. Freitagmorgen, 9 Uhr: Bundeskanzler Gerhard Schröder tritt in Berlin ans Mikrofon, um die Rede zu halten, von der ein "Ruck" durchs Land ausgehen soll. Bewegung herrscht zur gleichen Zeit im Trierer Arbeitsamt. Dort tummeln sich die, die im Mittelpunkt der Kanzler-Ansprache stehen, auf Fluren und vor Schaltern: Arbeitslose.

Die Morgensonne hinter der großzügigen Fensterfront durchdringt das offene Treppenhaus und lässt die in warmen Terrakotta-Tönen getünchten Wände leuchten. Es ist ein schöner Morgen im Trierer Arbeitsamt. Der Frühling liegt in der Luft und verbreitet so etwas wie Aufbruchstimmung. Darum bemüht sich zur gleichen Zeit 700 Kilometer weiter östlich der Bundeskanzler: Gerhard Schröders Regierungserklärung im Berliner Reichstag soll die Weichen stellen für eine Kursänderung, für den lange erhofften Aufschwung, dafür, dass Deutschland wieder ein blühendes Land wird. "Ich erwarte gar nichts von der Rede", sagt Randolf G. In einer Sitzecke des Trierer Arbeitsamtes wartet der Dreher darauf, dass er an die Reihe kommt, um die seit Monaten gleiche Nachricht zu hören: kein Job in Sicht. Auch der arbeitslose Lagerarbeiter Lothar S. glaubt nicht an einen Ruck: "Geredet wird viel. Aber es kommt nichts ans Laufen." Er deutet auf sein Kinn. "Ich habe den Hals voll von Reden - bis hierhin! Die Politiker sollen endlich was machen!" Köchin Uta K., die auf eine Umschulung wartet, ist ebenfalls skeptisch: "Bisher habe ich nur leere Versprechungen gehört, gerade vom Bundeskanzler", sagt sie. "Es gibt immer neue Reformversprechen, und die Zahl der Arbeitslosen steigt und steigt." Der Kanzler spricht derweil über den "Umbau des Sozialstaates" und kündigt milliardenschwere Einschnitte an - für Rentner, Kassenpatienten, vor allem aber Arbeitslose. Randolf G. im fernen Trier ahnt: "Sie werden den Armen Geld wegnehmen." Schon Tage zuvor ist durchgesickert, dass Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt werden sollen. "Das soll ein Anreiz für Arbeitslose sein, sich einen Job zu suchen?" Lothar S. gerät in Rage: "So ein Quatsch! Dann müsste erst einmal Arbeit da sein!" Der Kündigungsschutz müsse gelockert werden, rührt derweil Kanzler Schröder an bisherigen Tabus der Sozialdemokraten - die "Ruck-Rede" lässt so manchen Genossen zusammenzucken. Auch am anderen Ende der Republik beurteilt man diesen Vorstoß skeptisch: "Damit wird Schindluder getrieben werden", prophezeit Randolf G., und Uta K. sagt: "Dann werden die Leute nur noch schneller entlassen." Neue Arbeitsplätze? An diesen Effekt glaubt hier offenbar niemand. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es nach Randolf G.s Auffassung ganz anderer Mittel: "Steuersenkungen, damit die Leute wieder mehr Geld ausgeben können. Und eine drastische Reduzierung der Überstunden." Davon ist in Berlin keine Rede. Auch die Hoffnung vieler Menschen, der Kanzler werde die Wirtschaft in die Pflicht nehmen, erfüllt sich nicht. Enttäuschung durch Politiker? Das kann Jörg R. nicht passieren. Der Straßenbauer, der mit seiner arbeitslosen Frau im Trierer Amt vorspricht, hat mit seinen 22 Jahren bereits resigniert: "Wir dürfen uns den Arsch aufreißen, und die Politiker machen nichts, außer ein bisschen zu schreiben und zu schwätzen, und verdienen das Zehnfache. Wenn sie wollten, dass wir mehr Arbeitsplätze hätten, dann würden sie welche schaffen!" Es gebe genug Arbeit in der Gesellschaft, man brauche doch bloß mehr Hilfsprojekte zu initiieren, meint Jörg R. Dass das wohl nur über Steuererhöhungen zu finanzieren wäre, ist für ihn kein Gegenargument: "Die kommen sowieso - ob für solche Projekte oder für etwas anderes!" Die Schröder-Rede jedenfalls, ist der junge Mann sicher, "wird überhaupt gar nichts bewirken". Hier, zwischen Regalen mit Broschüren wie "Merkblatt für Arbeitslose" und "Stellensuche online", gibt allenfalls der Frühling ein Zeichen zum Aufbruch.

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