Reisewarnung würde Ankara schwer treffen

Brüssel · Bundeskanzlerin Merkel will den wirtschaftlichen Druck auf die Türkei erhöhen. Welche Instrumente stehen dazu zur Verfügung?

Brüssel Beim Fernsehduell von Angela Merkel und Herausforderer Martin Schulz ging es auch um den Abbruch der Beitrittsverhandlungen der Türkei zur EU. Schulz sprach sich für den Abbruch aus. Merkel war zunächst abwartend, sagte dann aber, dass sie mit den anderen Staats- und Regierungschefs aus der EU "noch einmal reden (will), ob wir zu einer gemeinsamen Position kommen und diese Beitrittsverhandlungen auch beenden können". Vor der Bundestagswahl im September werde nichts entschieden, teilte indes ihr Sprecher Steffen Seibert am Montag mit. Der nächste EU-Gipfel findet am 19. und 20. Oktober statt. Merkel favorisiert, wirtschaftlich Druck auf den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auszuüben.Wie viel Geld bekommt die Türkei als EU-Beitrittskandidat von Brüssel? Von 2014 bis 2020 sind an sogenannten Heranführungsbeihilfen 4,5 Milliarden Euro für die Türkei vorgesehen. Die Mittel sind dafür gedacht, die Türkei an die Standards der EU heranzuführen und so für den Beitritt zur Gemeinschaft zu ertüchtigen. So sind zur Förderung der Demokratie, der Rechtstaatlichkeit und des Respekts der Menschenrechte Zahlungen in Höhe von 1,6 Milliarden Euro vorgesehen. Weitere 1,5 Milliarden sollen die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung im Land stärken. Für den Agrarbereich und die ländliche Entwicklung sind 912 Millionen Euro eingeplant. Das Geld fließt aber ohnehin in letzter Zeit nicht so richtig. Von den 4,5 Milliarden Euro sind bislang erst rund 250 Millionen Euro ausgezahlt. Hintergrund sind die zunehmenden Spannungen zwischen der EU und der Türkei. EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn hat erklärt, dass die Beihilfen nur dann komplett gestoppt werden können, wenn die Mitgliedstaaten die Beitrittsverhandlungen förmlich aussetzen oder ganz abbrechen. Die Türkei bekommt die Beihilfen, seitdem sie offiziell den Status Beitrittskandidat hat, also seit 2005. In der ersten Finanzperiode als Beitrittskandidat waren 4,6 Milliarden Euro für die Türkei vorgesehen. Davon sind dem Vernehmen nach eine Milliarde noch nicht ausgezahlt.Wie viel Geld bekommt die Türkei an Darlehen?Die Europäische Investitionsbank (EIB) vergibt seit 2007 jedes Jahr Kredite im Volumen von über zwei Milliarden Euro in die Türkei. 2016 bekam kein Land außerhalb der EU mehr Geld aus Luxemburg als die Türkei. So finanzierte etwa die Förderbank der EU zuletzt eine Hochgeschwindigkeitszugtrasse von Istanbul nach Ankara sowie einen Tunnel unter dem Bosporus. Wenn die EIB ihr Kreditgeschäft mit der Türkei einstellen oder einschränken würde, so dürfte dies die wirtschaftliche Entwicklung im Land schwer beeinträchtigen. Bevor es so weit kommt, bedarf es aber einer Grundsatzentscheidung durch die EU-Mitgliedstaaten.Merkel hat sich gegen die Ausweitung der Zollunion zwischen Türkei und EU ausgesprochen. Was steckt dahinter? Seit Jahren gibt es keine Beschränkungen beim Export und Import von vielen Waren, auch Zölle werden bei vielen Produkten nicht erhoben. Von der Zollunion sind aber bislang alle landwirtschaftlichen Erzeugnisse sowie Kohl- und Stahlprodukte ausgenommen. Über die Ausweitung der Zollunion sollte verhandelt werden. Diese Gespräche sind aber vom Tisch. Die EU ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner der Türkei. 40 Prozent seines Außenhandels bestreitet das Land mit der EU. Eine Aufkündigung der Zollunion würde die Wirtschaft treffen wie förmliche Sanktionen.Was würde es bedeuten, wenn das Auswärtige Amt eine Reisewarnung für die Türkei aussprechen würde? CSU-Chef Horst Seehofer fordert diese Reisewarnung durch das Auswärtige Amt. Sie hätte dramatische Folgen für den Tourismus. Reiseveranstalter wären verpflichtet, ihre Kunden aus der Türkei zurückzufliegen und müssten alle weiteren Türkei-Reisen auf andere Ziele umbuchen. 2015 waren allein 5,6 Millionen Deutsche in der Türkei im Urlaub. 2016 waren es immerhin noch 3,9 Millionen. Nach den Festnahmen deutscher Staatsbürgerr dürften die Zahlen 2017 in die Knie gehen (siehe weiteren Bericht auf dieser Seite).Wie reagiert Brüssel auf den Vorstoß aus Berlin, die Beitrittsverhandlungen abzubrechen? Reserviert. Ein Kommissionssprecher verweist auf eine Äußerung von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker aus der Vorwoche. Juncker hatte gewarnt: "Die Türkei entfernt sich mit Riesenschritten von der EU." Und weiter: Die "türkische Regierung macht eine Mitgliedschaft des Landes in der EU unmöglich". Der EU-Kommissionspräsident Juncker hat allerdings davon abgeraten, dass die EU aktiv die Verhandlungen abbricht. Erdogan würde versuchen, daraus innenpolitisch Kapital zu schlagen. Fragen & Antworten EU-BeitrittsverhandlungenExtra: DREYER: VERHAFTUNGEN SIND UNERTRÄGLICH

Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) hat die Verhaftung eines rheinland-pfälzischen Ehepaars in der Türkei scharf kritisiert. "Als Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz finde ich es unerträglich, dass Rheinland-Pfälzerinnen und Rheinland-Pfälzer in der Türkei aufgrund von vermutlich politischen Vorwürfen verhaftet werden", äußerte sie in einer Mitteilung am Montagabend. Sie zeigte sich erleichtert, dass die Frau inzwischen wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Zugleich betonte sie, auch der verhaftete Mann müsse schnellstmöglich freikommen, sollte es weiterhin keine rechtlich nachvollziehbaren Gründe für seine Inhaftierung geben. Zuvor hatte der WDR berichtet, bei den beiden am Donnerstag im südtürkischen Antalya festgenommenen Deutschen handele es sich um ein Unternehmer-Ehepaar aus Rheinland-Pfalz mit türkischen Wurzeln, dem man Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorwerfe.

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