Risse in der Koalition: Westerwelle lässt die Merkel-Kritiker los

Er übt unverhohlen Kritik und stellt der Kanzlerin Aufgaben: Vizekanzler Guido Westerwelle lässt derzeit kein gutes Haar an Angela Merkel. Dem vorausgegangen waren die Verhandlungen zum Stabilitätspakt.

Berlin. Was in den zurückliegenden Tagen in Berlin geschehen ist, ist beispiellos. Der Vizekanzler und FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle ließ wichtige Politiker seiner Partei gegen Angela Merkels Europapolitik schießen. Genauer gesagt gegen die Vereinbarung, die die Kanzlerin am Montag mit Frankreichs Präsidenten Nicolas Sarkozy zum Euro-Stabilitätspakt geschlossen hatte.

Zuerst meldete sich am Dienstag FDP-Generalsekretär Christian Lindner zu Wort, äußerte über das Ergebnis von Deauville "Erstaunen" und erklärte: "Dieser Kompromiss ist zu weich, um einen harten Euro zu garantieren." Schärfer formulierte die FDP-Europa-Parlamentarierin und Westerwelle-Vertraute Silvana Koch-Mehrin: Die Kanzlerin habe sich von Sarkozy "komplett über den Tisch ziehen lassen" und Versprechen "gebrochen". Ähnlich äußerten sich am Dienstag weitere FDP-Abgeordnete aus der zweiten Reihe. Offenbar eine koordinierte Aktion.

In der Kabinettssitzung am Mittwoch berichtete Merkel von ihren Gesprächen. Als sie fertig war, meldete sich Westerwelle zur Ergänzung. Auch das ist ein seltener Vorgang. Was er in der vertraulichen Runde sagte, wiederholte er gestern öffentlich. Erstens: Ein Vorgang wie die Griechenland-Krise dürfe sich nicht wiederholen. Daher dürften Sanktionen gegen notorische Defizitsünder "nicht der politischen Opportunität" unterworfen sein, sprich dem Willen der 27 Regierungschefs. Und zweitens: Es sei notwendig, sofort eine Änderung der EU-Verträge einzuleiten, um bis 2013 eine Art europäische Schuldenbremse für alle Mitgliedsländer festzuschreiben.

Eigentlich wäre Westerwelles Klarstellung nicht notwendig gewesen. Denn das im Mai von der Bundesregierung verabschiedete Stabilitätskonzept, das kurz danach auch vom Bundestag bekräftigt wurde, sah genau diese Punkte vor. Wer wie Griechenland auch nach ersten Warnungen weiter Schulden mache, sollte demnach automatisch mit einem Sanktionsverfahren überzogen werden. Laut Westerwelle bedeutet "automatisch", dass die EU-Kommission das Verfahren einleitet, nicht die Regierungschefs. Die sollen es allenfalls mit einer "qualifizierten Mehrheit" (entspricht nach den EU-Definitionen ungefähr einer Zweidrittel-Mehrheit) nachträglich stoppen können.

Merkels und Sarkozys Vereinbarung sieht es jedoch genau anders vor: Da braucht es die qualifizierte Mehrheit, um die Sanktionen überhaupt erst in Gang zu setzen. Als Regierungssprecher Steffen Seibert am Mittwoch mitteilte, die gesamte Bundesregierung unterstütze den Kurs der Kanzlerin, auch im Kabinett habe es keinen Widerspruch gegeben, platzte Westerwelle die Hutschnur. Er rief Seibert, der nur Merkel untersteht, direkt an und wies ihn zurecht. Erst nach Westerwelles Beschwerde bei Seibert reagierte Merkel und schob in einer Rede vor Wirtschaftsvertretern die Bemerkung ein, auch sie wolle die Änderung des EU-Vertrags schnell auf den Weg bringen. Bis März 2011 würden Frankreich und Deutschland dafür Vorschläge vorlegen.

Doch Westerwelle war damit nicht zufrieden. Gestern bekräftigte er seine Forderung, dass schon der EU-Gipfel nächste Woche ein klares Mandat für die Veränderung des EU-Vertrags bringen müsse. Der Vizekanzler stellt der Kanzlerin vor einem internationalen Treffen Aufgaben — auch das geschieht selten.

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