Rot-Grün vor schwarzer Wand

BERLIN. Ein Erfolg mit Kratzern: Rot-Grün gewann zwar gestern im Bundestag die entscheidenden Abstimmungen - aber auch die Opposition hatte Grund zum Feiern.

Der Auftritt vor dem Fraktionssaal der SPD währte kaum eine Minute: "Sehr zufrieden" sei er über den Verlauf des Tages, rief der Kanzler in einen Wald von Mikrofonen. Das war's. Die erste Nachfrage blieb im Ansatz stecken. Mit grimmiger Miene machte Gerhard Schröder kehrt und eilte zu seinen Genossen. Sieger sehen anders aus. Dabei schien eigentlich alles erreicht, was die Koalition seit Tagen von sich selbst verlangt hatte: Die Gesundheitsreform wurde mit einer "eigenen Mehrheit" verabschiedet. Und das Gesetz über die Lockerung des Kündigungsschutzes und strengere Bestimmungen beim Arbeitslosengeld ging sogar mit der Kanzlermehrheit durch. Kurzum, das Regierungslager bewies Handlungsfähigkeit. Und trotzdem lasten auf dem Erfolg tiefe Schatten. Denn die Strategen im Regierungslager mussten alle Register ziehen, um ihre Truppen einigermaßen auf Linie zu bringen. "Wenn wir heute die Mehrheit verfehlen, wird das auf das Ende der Koalition hinaus laufen", hatte Gerhard Schröder schon am Morgen in einer Sondersitzung der SPD-Fraktion verkündet. Das klang wieder einmal nach Rücktrittsdrohung. Diesmal zog der Kanzler sogar Parallelen zum Jahr 1982, als die sozial-liberale Koalition den Bach hinunter ging. Nicht nur wegen der FDP. Auch die eigenen Reihen versagten Kanzler Helmut Schmidt die Gefolgschaft. Und der Streit drehte sich sinnigerweise um Krankenversicherung, Renten und Arbeitsmarkt. Wiederholt sich nun die Geschichte? Jedenfalls ließen sich nicht alle Genossen von Schröders Warnungen beeindrucken, wie sich später bei der Stimmenauszählung zeigte. Anders die Grünen. Die potenziellen Nein-Sager Christian Ströbele, Winfried Hermann und Jutta Dümpe-Krüger kochte der Regierungschef bei einem gemeinsamen Frühstück weich.Sechs Abtrünnige erzürnen den Kanzler

Vielleicht hätte sich Joschka Fischer im Gegenzug um die Abtrünnigen von der SPD kümmern sollen. Als ihn ein Medienkollege in der Reichststags-Lobby scherzhaft darauf hinwies, winkte der Außenminister angesäuert ab. Dafür war es sowieso zu spät. Gerade wurde die namentliche Abstimmung eingeläutet. Viele drängelten sich längst in den Wandelgängen. Warum auch der Plenardebatte folgen? Mehr Eigenverantwortung, höhere Zuzahlungen, schmerzliche Leistungseinschnitte - alles schon hundert Mal gehört. Geradezu elektrisierend wirkten dagegen die Wasserstandsmeldungen zur Stimmenauszählung. Sechs SPD-Abgeordnete hatten dem Machtwort des Kanzlers getrotzt. Das wirkte wie eine Bombe. "Der Schröder kriegt seine Truppe nicht mal mehr mit Rücktrittsdrohungen in Griff", triumphierte CDU-Generalsekretär Laurenz Mayer. Kein Zweifel, vor dem Plenarsaal war der Kampf um die Deutungshoheit ausgebrochen. Die Koalitionäre stellten ihre 297 Ja-Stimmen heraus. Das waren immerhin 20 Stimmen mehr, als die Opposition auf die Waagschale brachte. Die wiederum verwies genüsslich darauf, dass die Rot-Grün eigentlich mehr erreichen wollte. "Eine eigene Mehrheit kann doch nur eine Kanzlermehrheit bedeuten, zumal selbst ein Joschka Fischer vorzeitig aus New York geholt wurde", philosophierte der saarländische Unionsmann Peter Altmaier. Für die Kanzlermehrheit wären mindestens 302 Stimmen nötig gewesen. Intern hatten SPD und Grüne die Messlatte etwas tiefer gelegt. Denn bis zuletzt war noch unklar, ob auch schwer erkrankte Genossen an der Abstimmung teilnehmen konnten. Die Rechnung ging so: Das rot-grüne Lager müsste wenigstens 298 Stimmen für sich verbuchen, weil die Opposition maximal 297 Parlamentarier aufbieten könnte. Zu den sechs SPD-Abweichlern kam aber noch ein Genosse, der sich vor dem Votum drückte, ein Schwerstkranker, der nicht nach Berlin kommen konnte, sowie eine Stimmenenthaltung bei den Grünen. Das bedeutet: Hätten Union, FDP und PDS ihre Leute allesamt an Bord gehabt und dagegen gestimmt, dann wäre Rot-Grün unterlegen gewesen. Natürlich ist das politische Theorie. Aber schon die theoretische Möglichkeit einer Niederlage sorgte beim Kanzler für Verdruss. Auf einer kurzen Fraktionssitzung nach dem Votum brach sich der Frust Bahn. Ein Abgeordnete forderte die Dissidenten sogar auf, ihre fraktionsinternen Posten niederzulegen. Allerdings werden die Widerspenstigen (Ottmar Schreiner, Sigrid Skarpelis-Sperk, Fritz Schösser, Horst Schmidbauer, Rüdiger Veit und Klaus Barthel) noch für die schwierigen Agenda-Abstimmungen gebraucht. So beschränkte sich Franz Müntefering auf eine Warnung: "Das darf es nicht mehr geben."

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