Rot-grüne Welt aus den Fugen

Berlin. Wahlverluste in Schleswig-Holstein, steigende Arbeitslosenzahlen, sinkende Umfragewerte, Visa-Affäre um Außenminister Joschka Fischer, Steuerstreit zwischen den Ministern Hans Eichel (Finanzen) und Wolfgang Clement (Wirtschaft) - der rot-grünen Koalition steht das Wasser bis zum Hals.

Nach einer Woche des Missvergnügens sah sich Bundeskanzler Gerhard Schröder veranlasst, eine Parole auszugeben: "Nerven behalten". Die Union aus CDU und CSU ist derweil in fast euphorische Stimmung geraten und wittert die große Chance, die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005 gewinnen zu können. Am Donnerstagabend hatte Schröder den ungestüm drängelnden Clement nach Informationen unserer Zeitung zum persönlichen Gespräch gebeten und ihm ins Gewissen geredet. Er solle sich um die Hartz-Reformen kümmern und die Steuerpolitik dem Finanzminister überlassen. Das ständige Sticheln gegen den Kollegen Eichel schade der Regierung und vor allem den Genossen im Ruhrpott, belehrte der Kanzler den Unduldsamen.Clement und Eichel liegen im Clinch

Clement hatte für Schlagzeilen gesorgt, als er dem Parteifreund Eichel ungeniert eine falsche Steuerpolitik vorhielt ("Wir machen eine fiskalische Steuerpolitik, keine wirtschaftspolitische"). Der erkrankte Eichel hatte daraufhin verärgert den Fehdehandschuh aufgenommen und per Erklärung vor "steuerpolitischen Schnellschüssen" gewarnt. Hintergrund ist das eifrige Bemühen des Wirtschaftsministers, Eichel zu einer raschen Unternehmenssteuerreform zu bewegen. Schröder schlichtete den Streit jetzt mit dem Hinweis, die Regierung habe beim Sachverständigenrat ein neues Gutachten in Auftrag gegeben, das "die komplexe Materie" (Regierungssprecher Bela Anda) beleuchten soll. Ungeachtet der angeblichen Einigung blieb jedoch der Eindruck der Zerstrittenheit haften. Das hat der Koalition gerade noch gefehlt. Ohnehin ist die rot-grüne Welt aus den Fugen, seitdem Superstar Joschka Fischer ins Kreuzfeuer der Kritik geraten ist und um sein politisches Überleben kämpfen muss. Angeblich will er beim Landesparteitag der NRW-Grünen am heutigen Samstag in Köln Klartext reden und ein Fehlverhalten bei der Visa-Vergabe einräumen. Ob dies zur Beruhigung der Gemüter beiträgt, darf allerdings bezweifelt werden. Denn vor allem die Sozialdemokraten an Rhein und Ruhr sind hochgradig nervös, seit das "Signal von Kiel" (CDU-Chefin Angela Merkel) auch für NRW wahlpolitisches Unheil andeutet. Sie glauben, dass das Herzland der SPD verloren gehen könnte, wenn die schlechte Stimmung in Partei, Wirtschaft und bei vielen Bürgern anhält. Wahre Bände spricht diesbezüglich das Verhalten des SPD-Landesvorsitzenden Harald Schartau, der Fischer schwere Versäumnisse vorwarf und vor einer "Strategie des Aussitzens" warnte. Diese Aussage wurde am Freitag im Kanzleramt ebenso kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen wie das Interview des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck (SPD), man müsse sich ja "nicht auf Rot-Grün versteifen", sondern könne auch andere Koalitionen ins Auge fassen. "Hilfreich", so ein Kanzler-Vertrauter, "ist das alles nicht". Als Beleg dafür können auch die neuesten Zahlen des ZDF-"Politbarometers" gelten, die bei der Union Hochstimmung ausgelöst haben. Erstmals seit über drei Jahren ist Fischer nicht mehr der beliebteste Politiker Deutschlands. Die Spitzenstellung musste er an Niedersachsens Regierungschef Christian Wulff (CDU) abtreten. Fischers Visa-Affäre war in den vergangenen Tagen auch das mit weitem Abstand führende Thema in allen Zirkeln der Union. Entscheidend sei, sagte Fraktionsvize Wolfgang Bosbach, "dass wir wieder Mut gefasst haben". Der Wahlerfolg in Kiel habe gezeigt, so der allgemeine Tenor, dass es sich zu kämpfen lohne.

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