Runder Tisch erkennt Leid der Heimkinder an

In den Kinder- und Jugendheimen der 50er und 60er Jahre in Westdeutschland herrschten zum Teil grausame Bedingungen. Ein Runder Tisch arbeitet derzeit das Schicksal der Betroffenen auf. Gestern gaben seine Vertreter einen Zwischenbericht.

Berlin. Wie emotional es zugeht, konnte man sogar bei der Pressekonferenz zur Halbzeit des "Runden Tisches Heimerziehung" gestern in Berlin sehen. Betroffene griffen sich das Mikrofon und schilderten ihre schlimmen Erfahrungen in den Kinder- und Jugendheimen der 50er und 60er Jahre. Das ging bis hin zu Serienvergewaltigungen. Die Vertreter der Kirchen, der ehemaligen Heimträger, des Bundes und der Länder, die diese Missstände zusammen mit Vertretern der ehemaligen Heimkinder gemeinsam aufarbeiten, zeigten sich betroffen. In einem einstimmig angenommenen Zwischenbericht bekennen sich zu "Leid und Unrecht", das vielen widerfahren sei. Nur bei der Frage, was daraus folgt, ist man sich nicht einig.

700 000 bis 800 000 Kinder und Jugendliche lebten laut Zwischenbericht in den in der Regel geschlossenen Heimen, die meist von Caritas, Diakonie oder Orden betrieben wurden. Die Einweisungen erfolgten oft aus fadenscheinigen Gründen, wegen "Verwahrlosung" etwa oder wegen "problematischer Lebensverhältnisse". Uneheliche Kinder und Scheidungskinder waren besonders stark vertreten - Ausdruck der Moralvorstellungen der Nachkriegsjahre. Dazu kamen Waisen.

In den Heimen waren drakonische Strafen, Schikanen und Misshandlungen an der Tagesordnung. Jeder dritte der 400 Betroffenen, der sich direkt beim Runden Tisch meldete, berichtete auch von sexuellen Übergriffen. Bei vielen habe die Zeit schwere Traumata hinterlassen, stellte der Runde Tisch fest. "Das war ein ziemlich düsteres Kapitel der alten Bundesrepublik", sagte die Vorsitzende des Gremiums, die frühere Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne).

Bei der Frage der Konsequenzen liege das Problem jedoch darin, dass es sich um Unrecht in einem Rechtsstaat handele, sagte Vollmer. Zudem, ergänzte der Vertreter der Länder, der nordrhein-westfälische Beauftragte Klaus Schäfer, seien die Heime kein Unrechtssystem gewesen, das es von vornherein auf die Schädigung von Menschen abgesehen habe. Man müsse also die individuellen Fälle prüfen. Allerdings teilte auch Schäfer die im Zwischenbericht festgehaltene Ansicht, dass es ein "System Heimerziehung" mit großen Mängeln gab. Vollmer sprach von einer "Verantwortungskette", die von den Erziehern über die Träger der Heime bis zu staatlichen Stellen reichte. Mit den Erziehungsreformen wurden die Missstände Anfang der 70er Jahre überall abgestellt.

Umstritten blieb in der Runde, ob die in den Heimen verlangte Arbeit als "Zwangsarbeit" einzustufen sei. Die Vertreter der Betroffenen fordern dies. Dahinter steht ihr Ziel, ähnlich wie die NS-Zwangsarbeiter mit Geld entschädigt zu werden. Antje Vollmer und die anderen Mitglieder des Gremiums wollten jedoch nur von "erzwungener Arbeit" reden, weil die NS-Zwangsarbeit einzigartig gewesen sei. Immerhin ist im Zwischenbericht festgehalten, dass in der weiteren Debatte nun auch die Einrichtung eines "Fonds für die materielle Anerkennung" geprüft werden soll. Ebenso geht es um Möglichkeiten zur Anerkennung von Rentenzeiten. Wo das bisherige Recht nicht greife, werde man, so Vollmer, "rechtliche Öffnungen" diskutieren. Der vom Petitionsausschuss des Bundestages eingerichtete Runde Tisch will seine Empfehlungen Ende des Jahres an die Politik übergeben.

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