Schattenwelt ohne Kontrolle

Der Sicherheitsapparat in den Vereinigten Staaten beschäftigt derzeit 854 000 Menschen und kostet mindestens 75 Milliarden Doller im Jahr. Eine brisante Recherche der Washington Post hat große Probleme enthüllt: Eine Hand weiß nicht was die andere tut.

Washington. Wer auf dem Stadtplan nach "Liberty Crossing" Ausschau hält, sucht vergeblich. GPS-Navigatoren zeigen den Ort genauso wenig an wie Googles Kameras, die sonst jede Laube im Garten eines Privathauses neugierigen Blicken preisgeben. "Liberty Crossing" existiert nicht auf den Karten oder Satellitenaufnahmen, aber in der wirklichen Welt. Drei Mal so groß wie ein "Walmart-Supercenter", versteckt hinter einem begrünten Erdwall in einer wohl situierten Nachbarschaft von McLean, einem Vorort Washingtons. Willkommen in der Schaltzentrale des "streng geheimen" Amerikas.

Hier in der Zentrale des "Nationalen Geheimdienstdirektors" (DNI) und des "National Counterterrorism Centers" laufen die Fäden eines gewaltigen Sicherheitsapparats zusammen. Theoretisch. In der Praxis haben die Top-Schlapphüte und Verantwortlichen für die Nationale Sicherheit der USA längst den Überblick verloren. Laut einer investigativen Recherche der "Washington Post" entstand seit dem 11. September ein Moloch aus 1271 Regierungsbehörden und fast 2000 privaten Firmen, die für die Sicherheit der USA gegen "gewalttätige Extremisten aus dem Ausland" sorgen sollen.

"Es gibt nur einen, der in diesem Universum den Überblick haben kann", sagt der designierte Nachfolger auf dem Posten des DNI, der bisher für die Geheimdienste zuständige Ministerialdirektor im Pentagon James R. Clapper. "Das ist Gott." Womit er ziemlich exakt das Dilemma beschreibt, vor dem jeder steht, der in "Liberty Crossing" die Verantwortung träg. "Top Secret"-Amerika wuchs zu einer Krake an, die heute rund 854 000 Menschen in den USA beschäftigt. Allein in der Umgebung der amerikanischen Hauptstadt entstehen oder enstanden 33 Neubauten, die zusammen drei Mal soviel Bürofläche schaffen, wie das Pentagon. Mit 75 Milliarden US-Dollar ist das offizielle Budget heute zweieinhalb mal so groß wie vor den Terroranschlägen der El Kaida.

Nur die für die Kontrolle der Dienste zuständigen Ausschüsse im Kongress wissen, was die Regierung darüber hinaus an nicht-veröffentlichten Mitteln in die Geheimdienste investiert. Das Ergebnis scheint paradox. Je mehr sich die versteckte Welt aufblähte, desto weniger effektiv erweist sie sich. Die Reporter der Post, die über Wochen öffentliche Akten und Datenbanken durchforsteten, mit hunderten Mitarbeitern, Experten und Verantwortlichen sprachen, kommen zu der ernüchternden Erkenntnis, dass eine Hand nicht mehr weiss, was die andere tut. Behörden machen doppelte Arbeit. Grabenkriege verhindern Zusammenarbeit. Und ein Überangebot an Informationen vernebelt den Blick für das Wesentliche.

Keiner der 1700 Beamten oder 1200 privaten Vertragsarbeitern die jeden Tag zur Arbeit nach "Liberty Crossing" fahren, verknüpfte die Spuren und Hinweise auf den Unterhosen-Bomber von Detroit oder den von Hass zerfressenen Psychiater Nidal Malik Hasan, der in Fort Hood vergangenen Herbst 13 Menschen um brachte. Obwohl in beiden Fällen erschreckend viele Details bekannt waren und auf die Tat hindeuteten.

Verteidigungsminister Robert Gates, der als Chef des Pentagon über einen der größten Arme des amerikanischen Geheimdienst-Molochs wacht, räumt seine eigene Frustration mit dem System gegenüber der Washington Post ein. Es sei außerordentlich schwierig "präzise Informationen" zu erhalten. Kein Wunder angesichts der 50 000 Berichte, die Mitarbeiter der Behörden jedes Jahr produzieren. Die meisten davon verstauben unbeachtet in den Ablagen der Schreibtische und Eingangsfächer der Computer. "Wir haben eine unglaubliche Kapazität aufgebaut," meint Gates. "Aber brauchen wir das wirklich?" Beispiel National Security Agency, die vor den Toren Washingtons für das Abfangen elektronischer Kommunikation zuständig ist. Das "große Ohr" der USA bekommt so viel mit, dass es nicht annähernd genügend Personal und Mittel hat, im Vorhinein zu erkennen, was wichtig ist und was nicht. An jedem einzelnen Tag schnappt die NSA rund 1,7 Milliarden E-Mails, Telefonate und andere Info-Schnippsel auf. Ein kleiner Teil davon wird 70 Datenbanken zugeordnet. Nachdem etwas passiert ist, kann die Agentur oft rekonstruieren, was die Schlapphüte vorher übersahen.

Als stellte dies die Behörden nicht vor genügend Probleme, gibt es innerhalb der Geheimdienstwelt noch eine Fülle an Geheimnissen, die die amerikanischen Schlapphüte voreinander hegen. "Special Access Programs" heißen die hochspezialisierten Programme, von denen manchmal nur eine Handvoll Insider weiß. Laut Recherche der Post führt das Pentagon eine Liste mit Codenamen, die für sich genommen schon 300 Seiten lang ist. Der kürzlich zurückgetretene Nationale Geheimdienstdirektor Dennis C. Blair räumt ein, dass die Amerikaner über das Ziel hinausgeschossen haben. "Nach dem 11. September haben wir beschlossen, dem gewalttätigen Extremismus die Stirn zu bieten." Die Amerikaner hätten dann etwas für sie Typisches gemacht. "Die Einstellung war: es lohnt sich. Vielleicht lohnt es sich zu übertreiben." Mit dem Ergebnis, dass neun Jahre später ein Apparat entstand, den niemand mehr wirklich kontrollieren kann.

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