Schauder und Schadenfreude

KÖLN. Fernsehen bleibt ein spannendes Medium, das sein Publikum immer wieder mit neue Höhen und Tiefen überrascht. Glaubten die Hüter des guten Geschmacks, mit "Big Brother" sei der absolute Nullpunkt erreicht worden, so belehrt sie die heute endende Dschungel-Show eines Besseren.

Lisa Fitz ist draußen. Nicht aus dem Camp. Dafür hat die (einst?) durchaus renommierte Kabaretti-stin, die in einem Atemzug mit Hanns Dieter Hüsch, Matthias Riechling oder Richard Rogler genannt wurde, ihre Kündigung vom Saarländischen Rundfunk erhalten. Fritz Raff, Intendant der in kurort-ähnlichem Ambiente gelegenen Anstalt auf dem Hallberg, will sie im "SR-Gesellschaftsabend", einer der wenigen verbliebenen Kabarettsendungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, nicht mehr sehen. Damit dürfte Frau Fitz (52) die Einzige sein, die für ihre Teilnahme an der Trash-Show "Ich bin ein Star - Holt mich hier ‘raus" wirklich büßen muss. Die anderen Medien-Zombies und abgehalfterten Pseudo-Promis, die zwecks Aufpolierung ihrer verblassten Popularität in den australischen Busch geflogen sind, hatten dagegen nichts mehr zu verlieren - nicht mal mehr ihren guten Ruf. Aus dem hohlen Bauch heraus gesprochen, dürfte Daniel Kübl- böck heute Abend als Gewinner aus dem Buschkampf hervorgehen, gehören ihm doch als skurrilstem Mitglied der Truppe die meisten Sympathien. Nicht nur beim gemeinen Publikum ist die Show umstritten, was Akzeptanz und Ablehnung angeht. Entsetzen, Schadenfreude und Mitleid - die gesamte Gefühlsskala, Abteilung Empathie, kommt bei Zuschauerbefragungen aufs Tapet. Selbst die Fachleute sind sich uneins, was die Wirkung der allabendlich live ausgestrahlten Show angeht. Wollte etwa der Vorsitzende der saarländischen Landesmedienanstalt Gerd Bauer ("Es scheint, wir haben mit dieser voyeuristischen Show ein neues Niveau der Geschmacklosigkeit im Deutschen Fernsehen erreicht") die Sendung komplett verbieten lassen, konterte Norbert Schneider, sein Kollege aus Nordrhein-Westfalen im DeutschlandRadio Berlin, Verbote seien nicht die Kategorie, in der man diese Dinge angehen sollte - "ganz abgesehen davon, dass sie auf einer rechtlichen Grundlage erfolgen müssten, die man so schnell gar nicht hinkriegen wird". In die gleiche Kerbe schlägt Joachim von Gottberg, Geschäftsführer der in Berlin ansässigen "Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen". Er hält die Show für "medienrechtlich unbedenklich" und beugt sich der normativen Kraft des Faktischen: Solange die Zuschauer einschalteten, würden derlei Formate auch zu sehen sein. Doch warum schalten die Leute ein? Aus denselben Gründen, warum sie in Horrorfilme gehen: Die Gänsehaut erzeugende Lust, ohne die eigene Haut hinhalten zu müssen, erfreut sich seit Jahrhunderten größter Beliebtheit - vom altenglischen Schlachtenepos Beowulf über die mittelhochdeutsche Reckensage namens "Nibelungenlied" bis zum bluttriefenden Freddie Kruger unserer Tage. Selbst ein familienfeindlicher Tendenzen gänzlich unverdächtiger Regisseur wie Steven Spielberg setzt seine Helden gern Angst und Schrecken in Gestalt von riesigen Käfern und giftigen Schlangen aus. Die Mär vom unbesiegbaren Helden, der sämtliche Drachen tötet und zum Schluss den Goldschatz kriegt, dürfte eine der ersten Geschichten gewesen sein, die sich die Menschen erzählt haben. Die Lust am Grauen scheint mithin tiefverwurzelt und weit verbreitet zu sein. Bei vielen Zuschauern lösen Gewalt und Horror eine Mischung aus Entsetzen und Faszination aus. (In der Realität erzeugen derlei Gefühle beispielsweise Autounfälle, an denen kaum jemand vorbeifährt, ohne den Fuß vom Gaspedal zu nehmen.)Die Psychoanalytikerin Anna Freud, Tochter eines berühmten Vaters, schiebt die Schuld dafür einem schwachen Ego zu, das Mut, Stärke und Selbstbewusstsein aus den Handlungen anderer bezieht, mit denen man sich, aus welchen Gründen auch immer, identifiziert.Appelle an die niedrigsten Instinkte

Moment mal, werden jetzt viele sagen - das alles ist doch nur Fiktion. Richtig. Aber was ist die RTL-Show anderes als Fiktion? Alles ist arrangiert, alles ist gut vorbereitet. Den beteiligten Menschen - durchweg freiwillige Kandidaten, wie der Fernsehsender nicht müde wird zu behaupten - droht kein ernsthafter Schaden. Dieses Risiko kann der Sender auch gar nicht eingehen, ohne seinerseits ernsthaften Schaden davonzutragen. Dafür ist er skrupellos genug, die übelsten Charaktereigenschaften und niedrigsten Instinkte ins Kalkül zu ziehen, was, laut dem Autor Hanns-Hermann Kesten, stets zu hohen Auflagen führte - und heute eben zu hohen Einschaltquoten. Das geflügelte Wort des unbekannten Berliner Kinobesuchers, der sich 1920 am Ende des Films lautstark bei der Kassiererin mit dem Satz beschwerte: "Wenn ick nu‘ schon drei Jroschen opfre, kann ick och verlangen, dass an meene niedrigsten Instinkte appelliert wird", hat nichts von seiner Gültigkeit verloren. Die Kommentare und Proteste der Medienwächter und Tierschützer werden also letztlich ungehört verhallen. Und da der Mensch ein Gewohnheitstier, der Schrecken von gestern das Amüsement von heute ist, muss es morgen noch etwas grauslicher zugehen. Was für echte Künstler gilt - "man ist nur gut, wenn man besser ist als am Vortag" -, trifft natürlich auch auf Fernsehmacher zu. Das heißt in diesem Fall: Es muss noch schlimmer, schockierender, extremer und ekelhafter werden, damit wir unseren Helden die Treue halten. Keine Bange: Der tiefste Wert auf der nach unten offenen Richterskala des schlechten Geschmacks ist noch lange nicht erreicht. Im Frühjahr geht‘s bei RTL (das Kürzel steht mittlerweile auch für "radikal tabu-los") weiter mit Unterhaltung für die ganze Familie. Die Show heißt "Angst-Faktor", stammt aus der "Big Brother"-Kreativ-Schmiede Endemol, war bereits in 70 Ländern zu sehen - und verspricht, natürlich noch härter, noch gefährlicher, noch extremer zu werden. Wir freuen uns drauf und berufen uns vorsichtshalber schon mal auf den Filmwissenschaftler Amos Vogel: "Es ist niemals das Bild, das zu weit geht, sondern immer nur die Realität."

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