Selbstentfaltung ohne Politik

BERLIN. Noch in den 80er- und 90er-Jahren war das jugendliche Interesse an politischen Vorgängen relativ stark aus geprägt. Dieses Bild hat sich fundamental gewandelt.

"Die politische Distanz zu Parteien ist hoch und wird langsam für ein demokratisches Gemeinwesen riskant", warnt der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann. Der Experte gehört zu den Mitautoren der gestern veröffentlichten Shell-Jugendstudie, die sich ausführlich mit den Einstellungen und Befindlichkeiten der Zwölf- bis 25-Jährigen befasst. Frühere Untersuchungen belegen, dass der Anteil der politisch Interessierten von 55 Prozent im Jahr 1984 inzwischen auf 39 Prozent gesunken ist. Zwar hatte die letzte Shell-Studie aus dem Jahr 2002 noch einen leicht niedrigeren Wert gemessen. Doch von einer Trendwende wollen die Wissenschaftler nicht sprechen. Vielmehr sei die Talsohle von damals kaum noch zu unterbieten gewesen. "Die Politik ist keine Welt, an der sich Jugendliche für ihre Selbstentfaltung orientieren", so Hurrelmann.Wachsende Sorgen um Arbeitsplatz

Von den repräsentativ befragten jungen Leuten trauen 41 Prozent keiner Partei zu, die Probleme in Deutschland zu lösen. Vor vier Jahren waren es noch 40 Prozent. Die politische Positionierung der Generation zwischen zwölf und 25 ist dagegen unverändert geblieben. Im Durchschnitt stehen sie leicht links von der Mitte. Lediglich neun Prozent ordnen sich stark links ein und nur vier Prozent stark rechts. Insofern mag es erstaunlich klingen, dass die NPD bei den jüngsten Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern fast jeden fünften Erstwähler für sich gewinnen konnte. Den Grund sieht Hurrelmann in einer "Unzufriedenheit mit der Praxis der Demokratie". Die NPD profitiere vom sozialen Frust der jungen Wähler, die sich von den etablierten Parteien nicht ernst genommen fühlten. So hat die Sorge um den Arbeitsplatz zugenommen. 2002 ging noch bei 55 Prozent der Befragten die Angst vor einem Jobverlust um. Vier Jahre später fühlen sich bereits 69 Prozent davon betroffen. Auch die Angst vor steigender Armut nahm im gleichen Zeitraum von 62 auf 66 Prozent zu. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass die Jugend der Familie als sozialen Anker einen hohen Stellenwert beimisst (darauf schwören 72 Prozent), aber der eigene Kinderwunsch deutlich dahinter zurückbleibt. Auf die Frage, ob man den Nachwuchs zum Glücklichsein braucht, antworten nur 44 Prozent mit "Ja". Insbesondere junge Frauen seien bei der Familiengründung mit vielfältigen Schwierigkeiten konfrontiert, "weil Ausbildung, berufliche Qualifikation und Partnerschaft mit Familiengründung in einem sehr kurzen Zeitfenster komprimiert sind". Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) kann diesen Befund nur bestätigen. Ja, es sei schwierig, Karriere und Kinder unter einen Hut zu bringen. Nötig sei ein "dichtes Netz" aus Elterngeld, Kinderbetreuungsmöglichkeiten und familienbewusster Wirtschaft. Daran wolle sie "mit Hochdruck" arbeiten.

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