Soccer wird salonfähig

Washington · Für viele US-Amerikaner ist Football bislang der einzig wahre Fußball gewesen. Doch Jürgen Klinsmann & Co. ändern diese Mentalität wegen ihrer Auftritte bei der WM ein wenig - und locken immer mehr Menschen vor den Fernseher.

Washington. Es war ein irritierender Anblick auf der McKinley Street, einer stillen Straße im Nordwesten Washingtons. Plötzlich rannten zwei Teenager mit Sternenbannern an den Hecken vorbei. "USA! USA!", skandierte der eine, es erinnerte an die Studenten, die vorm Weißen Haus jubelten, nachdem die Navy Seals Osama Bin Laden getötet hatten. "Ausgleich! Ausgleich!", rief der andere, was manchen Anwohner vor Rätsel gestellt haben dürfte - bei weitem nicht jeder hier ist fußballinteressiert. In Manaus hatte Jermaine Jones zum 1:1 gegen Portugal getroffen, und zum ersten Mal in den gut sieben Jahren, die ich hier wohne, spürte ich spontane Sportbegeisterung.
Die USA und Soccer, es ist eine schwierige Geschichte. Kein Politiker hat das polemischer auf den Punkt gebracht als Jack Kemp, ein Republikaner, der nicht nur Kongressabgeordneter und Vizepräsidentschaftskandidat war, sondern auch Quarterback der Buffalo Bills, das heißt, Spielmacher einer American-Football-Mannschaft. Noch 1986 sprach er davon, wie wichtig es sei, eine klare Trennlinie zu ziehen "für all die Jungs da draußen, die eines Tages hoffen, jenen wahren Fußball zu spielen, wo man den Ball werfen und kicken, mit ihm rennen und ihn in die Hand nehmen kann".
Sozialistisch und europäisch?


Football sei demokratisch, er stehe für Kapitalismus, für individuelle Freiheiten, während Soccer mit all seinen Einschränkungen ein europäischer, sozialistischer Sport sei. "Soccer zu hassen ist noch amerikanischer als Apfelkuchen zu backen, Pick-up zu fahren oder sich samstagnachmittags mit der Fernbedienung von Kanal zu Kanal zu zappen", übertrieb vor Jahren Tom Weir, Kolumnist der Zeitung USA Today. Es gibt Kommentatoren, die das 2014 kaum anders sehen. Für die meisten amerikanischen Kinder sei Soccer etwas, was man sie zu spielen zwinge, bis sie ihren achten Geburtstag feiern, schreibt Alexandra Petri in der Washington Post.

Aber womöglich ändert sich gerade was. 24 Millionen Zuschauer, so viele wie noch nie in der Fußballgeschichte der Vereinigten Staaten, sahen das Match USA - Portugal live im Fernsehen. Im Grant Park im Zentrum Chicagos fieberten 20 000 Fans vor einer Großleinwand mit. Es hilft, dass die Zeitverschiebung zwischen New York und Rio de Janeiro nur eine Stunde beträgt. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass Klinsmanns Truppe für ein ur-amerikanisches Erfolgsrezept steht. Die vielen Deutschen in der Mannschaft, so what? Seit 300 Jahren schon lebe man nach dieser Formel, doziert Matthew Futterman, einer der bekanntesten Fußballreporter des Landes. "Wir nehmen Talente von überallher, um sie in unserem Namen an die Arbeit gehen zu lassen."

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