Sozialsystem: Es ist fünf nach zwölf

TRIER/BERLIN. (sas) Der deutsche Sozialstaat steht vor dem Kollaps. Deshalb hat die rot-grüne Bundesregierung ihre Rürup-Kommission ins Amt gehievt, die Union konterte mit der Herzog-Kommission. Dabei liegen Konzepte für eine tiefgreifende Reform längst auf dem Tisch.

Deutschlands Sozialsystem steht vor dem größten Umbau seit Reichskanzler Otto von Bismarck. Federführend dafür ist der Sozialexperte Bert Rürup, der mit 26 Fachleuten im Auftrag der Bundesregierung den Sozialstaat bis 2004 fit machen und die Sozialbeiträge senken soll - von heute 41,3 auf unter 40 Prozent. Streichung von Krankengeld, Eintrittsgeld für den Arztbesuch, individuelle Rentenkonten lauten erste Vorschläge. Doch wie die Reform im Paket aussehen soll, bleibt unklar. Dabei sind weder die Arbeit der Experten noch ihre Vorschläge neu. Erst im April 2002 hat ein Gremium des Bundestages, die Enquête-Kommission "Demographischer Wandel", Wege zur Reform des Sozialsystems formuliert. Über zwölf Jahre hat die 24-köpfige Gruppe aus Parlamentariern und Wissenschaftlern getagt und Empfehlungen für die Alterssicherung, Gesundheit und Pflege gegeben - eine Einmaligkeit in Europa. Mitglied dieser Kommission war auch: Bert Rürup. "Ich bin enttäuscht darüber, dass aus den Enquête-Ergebnissen so wenig gemacht wird", sagt ihr langjähriges Mitglied Arne Fuhrmann (SPD). "Es gibt nichts hinzuzufügen", sagt auch Triers Gesundheitsökonom und Enquête-Mitglied Professor Eckhard Knappe. Er empfinde seine Arbeit im Rückblick als "Alibi-Veranstaltung". Dass etwas geschehen muss, darüber sind sich alle einig. Karl Lauterbach, Berater von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt und Mitglied der Rürup-Kommission kündigt im TV "radikale Reformpläne" an. Schon heute bekommt ein Arbeitnehmer von 100 Euro im Schnitt nur 39 Euro ausgezahlt. Bleibt alles beim Alten, zahlt ein 28-Jähriger im Laufe seines Erwerbslebens 500 000 Euro oder umgerechnet zehn Jahre in die Sozialkassen ein - ohne einen Cent rauszubekommen. "Es ist nicht mehr fünf vor zwölf, sondern nach zwölf", sagt der achtjährige Enquête-Vorsitzende Walter Link (CDU). Seine Partei hat als Antwort auf die Rürup-Kommission Ex-Bundespräsident Roman Herzog (CSU) zu einer eigenen Kommission verpflichtet. "Noch vor zwei Jahren haben unsere Leute die Zusammenhänge verweigert", übt Herzog-Mitglied Peter Rauen aus Salmrohr Selbstkritik. Doch die zunehmende "Kommissionitis" gerät in die Kritik. Nicht wenige beklagen, dass Volksvertreter Teile ihrer Arbeit an eine Räterepublik abgeben. "Es gibt kein Erkenntnis-, sondern ein Handlungsdefizit, das kann man nicht durch Kommissionen ausgleichen", kritisiert Enquête-Mitglied Joachim Wilbers aus Trier.

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