Spätwirkungen einer bedeutenden Rede

Vier Jahre nach der Agenda 2010 von Ex-Kanzler Gerhard Schröder sorgt das Reformwerk noch immer für Zwist unter den Sozialdemokraten. SPD-Vorsitzender Kurt Beck und Vizekanzler Franz Müntefering widersprechen sich bei der Ausrichtung der Reformpolitik. Kritik kommt vor allem vom linken Parteiflügel.

Berlin. Am 14. März 2003 gab Bundeskanzler Gerhard Schröder im Bundestag eine Regierungserklärung ab. Es war die Geburtsstunde der "Agenda 2010". Den Namen erfand Schröders Ehefrau Doris. Diese Agenda 2010 hat Rot-Grün die Mehrheit gekostet, sie hat zum Entstehen der Linkspartei geführt, aber sie hat, auch nach Eingeständnis von Nachfolgerin Angela Merkel, zum jetzigen Aufschwung beigetragen.Doch die Sozialdemokratie spaltet ihr eigenes Werk bis heute. Ein Teil ist stolz darauf, ein Teil schämt sich regelrecht dafür.

Vizekanzler Franz Müntefering sagte am Wochenende, seine Partei werde "die richtige Linie der Agenda 2010" in der Großen Koalition fortsetzen. Anders Parteichef Kurt Beck. "Die Zeit der großen Zumutungen muss erst einmal vorbei sein". Stolz auf Schröders Reformpolitik? Nein, er könne nicht stolz darauf sein, "wenn Menschen beispielsweise keine Rentenerhöhung bekommen". Zwei seiner künftigen Stellvertreter, Finanzminister Peer Steinbrück und Außenminister Frank-Walter Steinmeier, sagen hingegen, die Agenda 2010 habe die SPD erst wieder "auf Augenhöhe mit der Wirklichkeit gebracht". So müsse sie konsequent weitermachen und dazu stehen. Wie tief der Graben ist, zeigt die Kritik des Parteilinken Ottmar Schreiner: Er nannte die Reformpolitik am Sonntag "soziale Demontage".

Es rächt sich ein Geburtsfehler der Agenda, nämlich die mangelnde Einbeziehung der SPD, wie der Alt-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel kürzlich kritisierte. Das Projekt wurde damals wie ein Geheimkommando betrieben, von Steinmeier, der zu jener Zeit Kanzleramtschef war, und einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern.

Aufarbeiten, was jahrelang versäumt wurde

Der Auftrag: Das nachholen, was die SPD im Wahlkampf 2002 versäumt hatte - ein Programm, das die Sozialsysteme demografiefester macht und die strukturellen Ursachen der deutschen Wachstumsschwäche beseitigt. Denn der Abschwung hatte Ende 2002 unmittelbar nach der Wahl massiv eingesetzt und alle Versprechungen Makulatur werden lassen. Im Grunde wurde aufgearbeitet, was ein Jahrzehnt lang von Helmut Kohl und dann von Schröder selbst versäumt worden war.

Das Programm bestand keinesfalls nur aus Zumutungen. Steuersenkungen gehörten ebenso dazu wie Investitionsmittel für die Kommunen, die Förderung von Ganztagsschulen und mehr Geld für die Forschung. Diese Wohltaten wurden von der Bevölkerung kommentarlos konsumiert, die sozialen Einschnitte hingegen blieben vielen im Hals stecken. Die Veränderungen beim Kündigungsschutz, die Praxisgebühr, die Einschnitte bei der Rente, vor allem aber die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II und die Kürzung der Bezugsdauer für Arbeitslosengeld I.

Schröder peitschte den "Mut zur Veränderung", so der Titel seiner Rede, in seiner Partei mehr durch, als dass er sie wirklich dafür gewinnen konnte. Die Gesetze wurden im Hauruck-Verfahren verabschiedet. Nun, da Schröder weg ist und ein neues Grundsatzprogramm debattiert wird, sehen viele die Stunde für eine Kurskorrektur gekommen. Wenigstens eine nachholende Diskussion müsste es nun seitens der Parteispitze geben, eine Positionsbestimmung, die die SPD als Kraft benennt, die für wirtschaftliche Dynamik sorgt, zugleich aber auch garantiert, dass alle am Wohlstand teilhaben. Eine Partei, die sich um die Chancen der Menschen genauso sorgt wie um das Absichern des Scheiterns. Doch wie man derzeit sieht, ist sich die neue Führung, die erst Ende Oktober in Hamburg gewählt werden soll, schon vorher nicht einig.

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