Splitter und Balken

Die Meinungsforscher werden nicht müde, festzustellen, dass es in Deutschland eine breite Mehrheit für grundlegende Reformen gibt. Die Kundgebungen zum 1. Mai, aber auch Dialog-Veranstaltungen wie die auf dem Trierer Domfreihof, zeigen, dass diese Einschätzung trügerisch ist.

Zwar ist jeder für Reformen, aber grundsätzlich immer für die, die andere Gruppen treffen. Geht es an das eigene Portmonee, endet die Reformfreude abrupt. Mustergültig lässt sich das bei Gewerkschaften und Arbeitgebern beobachten. Die Gewerkschaften fordern von den Unternehmern zu Recht mehr Mut zur Investition, aber wenn es um unbequeme Erkenntnisse für die eigene Klientel geht, fehlt ihnen jede Courage. Die Arbeitgeber fordern zu Recht mehr Flexibilität von den Arbeitnehmern, aber bei der Wahrung eigener Interessen sind sie so beweglich wie ein Betonblock. In der öffentlichen Diskussion kultiviert man die Suche nach dem Splitter im Auge des Gegners und übersieht geflissentlich den Balken im eigenen. Vielleicht sind es deshalb bibelfeste Kirchenmänner wie der Trierer Bischof Marx, die gefordert sind, den Dialog nicht abreißen zu lassen. Wie aber herauskommen aus der Blockade, die das Land lähmt? Es reicht nicht, vernünftige Einzelvorschläge zu machen und irgendwie in die halbwegs richtige Richtung zu tapsen, wie es die Bundesregierung tut. Wer von den Menschen erwartet, dass sie Prozesse unterstützen oder wenigstens akzeptieren, die ihnen weh tun, hat drei Dinge zu leisten: Er muss davon überzeugen, dass er ein Gesamtkonzept hat, das zwar zunächst Opfer erfordert, aber im Ergebnis allen nutzt. Er muss von Anfang an glaubwürdig die Folgen für alle benennen und darf unangenehme Nebenwirkungen nicht verschweigen. Und er muss, vielleicht die wichtigste Komponente, den Eindruck vermitteln, dass sich innerhalb einer Gesellschaft alle im Rahmen ihrer Möglichkeiten an den entstehenden Lasten beteiligen. Letzteres hat Gerhard Schröder offenbar in der Rubrik "Sozialromantischer Schmus" abgelegt. Das kann sich hierzulande nicht einmal ein Christdemokrat leisten - für einen Sozialdemokraten ist es tödlich. d.lintz@volksfreund.de

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort