Tabletten statt Friseur-Besuch

TRIER. Die Gesundheitsreform belastet alle gesetzlich Versicherten. Doch besonders hart trifft es Patienten, die bis Januar noch von allen Zuzahlungen befreit waren, etwa die Behinderten.

"Ich muss mir jetzt überlegen, ob ich mir eine Tasse Kaffee in der Stadt oder den Friseur noch leisten kann." Karin Elsen muss seit Januar verstärkt rechnen. Dank der Gesundheitsreform mit Praxisgebühr und Zuzahlungen bleibt von ihrem monatlichen Taschengeld von 120 Euro nichts mehr übrig. Die 49-Jährige sitzt seit 17 Jahren im Rollstuhl. Sie hat schwere Multiple Sklerose, kann sich nicht mehr bewegen. Sprechen kann sie nur leise und ganz langsam. Den Rollstuhl bewegt sie über einen Hebel, den sie mit ihrem Kinn steuert. Sie ist auf Hilfe angewiesen. Seit sieben Jahren lebt sie in einem Heim für Schwerstbehinderte. Und dort erhält sie monatlich 120 Euro Taschengeld für den "persönlichen Bedarf", für Kino, Süßigkeiten, Shampoo oder eben für Friseur oder mal ein Eis oder eine Tasse Kaffee. Bis zum 31. Dezember musste sie wie alle Schwerbehinderten nicht für Tabletten bezahlen, die der Arzt verschrieben hatte, auch die notwendigen Therapien etwa bei der Krankengymnastik waren frei. Doch seit Januar ist alles anders. Genau wie alle gesetzlich Versicherten müssen die Behinderten Praxisgebühr beim Arzt bezahlen, für Medikamente müssen sie genauso zuzahlen. "Und das bei rund 100 Euro Taschengeld im Monat. Viele wissen nicht, wie sie das machen sollen", berichtet eine Betreuerin von Karin Elsen. Nach der gestrigen Einigung von Kassen und Ärzten gelten Behinderte nun zwar als chronisch Kranke und müssen damit nur ein Prozent ihres Einkommens an Zuzahlungen leisten. Das dürfte aber nichts daran ändern, dass viele Behinderte einen guten Teil ihres Januar-Geldes für medizinische Leistungen bereits aufgebraucht haben. Denn als Einkommen gilt nicht das Taschengeld, sondern der so genannte Eckregelsatz der Sozialhilfe von 298 Euro im Monat, obwohl die meisten Behinderten gar nicht über so viel Geld verfügen. Zwischen 80 und 140 Euro Taschengeld erhalten sie.Hälfte des Taschengeldes für Arzt und Medikamente

Das bedeutet, die Behinderten müssen viel mehr für medizinische Leistungen zahlen, als sie eigentlich müssten. Die zumutbare Zuzahlung im Jahr beträgt danach bei chronisch Kranken rund 36 Euro. Fast die Hälfte ihres Taschengeldes hat Karin Elsen im Januar schon für Arzt, Tabletten und Salben ausgegeben. "Ich hoffe, dass ich damit rundkomme", sagt sie, während sie über einen Strohhalm Tee aus einer Kanne trinkt. Viele Medikamente, die sie im vergangenen Jahr noch verschrieben bekam, muss sie nun selbst bezahlen. Etwa Wundsalbe: "Wenn man den ganzen Tag im Rollstuhl sitzt braucht man die für den Hintern", schmunzelt sie. Auch für die seit ihrer Brustkrebsoperation benötigten Lymphdrainagen muss sie ihr Taschengeld opfern. 38 Euro seien dafür fällig. "Zwei Bewohner haben schon mehr für Arzt und Medikamente ausgegeben als sie Taschengeld haben", sagt die Heimmitarbeiterin. Meistens streckt sie das Geld für Arzt und Arzneimittel vor. Selbst Taxi-Fahrten zur Krankengymnastik oder zum Arzt wurden bislang für die Behinderten nicht mehr von den Kassen bezahlt. Einige können sich tatsächlich eine Behandlung nicht mehr leisten. "Die müssen bis zu 180 Euro für eine Ergo-Therapie bezahlen. Da bleibt nichts zum Leben übrig", berichtet auch Sabine Kaufmann vom Trierer Club Aktiv, der 30 Behinderte betreut. Die Folge: Immer mehr brechen Behandlungen ab, verschieben Therapien, weil sie kein Geld dafür haben. "Die Reform macht die Leute krank, statt sie gesund zu machen", beschwert sich Kaufmann. Einige Behinderte würden zusätzlich von ihren Eltern unterstützt. "Die bezahlen denen die Behandlung, obwohl sie oft selbst wenig Geld haben."In Heimen herrscht große Verunsicherung

Die Behinderte und Pflegebedürftige in Heimen sind verunsichert. "Die wissen nicht, was noch alles auf sie zukommt und wie es weitergeht", sagt Bernhard Hoellen, pädagogischer Leiter der Lebenshilfe in Konz. 500 Behinderte werden von der Lebenshilfe betreut. Eigentlich wollten die Betreuer schon längst einen Informationsabend für die Behinderten machen, bei dem über die Änderungen gesprochen werden sollte. "Den haben wir verschoben, weil derzeit keiner durchblickt und sich sowieso täglich alles ändert", beschwert sich Hoellen. In Berlin verhallt der Hilferuf aus den Heimen jedoch anscheinend. Gesundheitsministerin Renate Schmitt sieht jedenfalls keineaußergewöhnlichen Belastungen für die Behinderten und Pflegefälle. Auf allenfalls 3,50 Euro bezifferte sie die monatlichen Kosten für Zuzahlungen. "Das geht völlig an der Realität vorbei", kritisiert Walter Hirrlinger, Präsident des Sozialverbands VDK. "Mindestens 90 Prozent des Taschengeldes gehen für Arzt und Medikamente drauf. Das ist unhaltbar." Zumindest scheinen einige Krankenkassen den Handlungsbedarf erkannt zu haben. Sie geben ihren behinderten Versicherten einen Befreiungsausweis, damit sie nicht mehr länger Praxisgebühr und Medikamentenzuzahlungen leisten müssen. Die AOK hat vorgeschlagen, die Zuzahlungen für Behinderte auf monatlich drei Euro für chronisch Kranke zu beschränken. Bis endgültig Klarheit herrscht, spart Karin Elsen ihr Geld lieber. "Da werden in diesem Monat mal die Haare nicht gefärbt und das Eis essen fällt auch aus."

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