Tag der Entscheidung über Junckers Job
Brüssel/Ypern · Auf ihrem Gipfeltreffen im belgischen Ypern arbeiten die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union ein breites Themenspektrum ab. Und sie scheinen Jean-Claude Juncker als Kandidaten für den Chefposten der EU-Kommission benennen zu wollen.
Brüssel/Ypern. Angela Merkel geht schnurstracks auf die Schaulustigen hinter den Absperrgittern zu. "Vielen Dank, dass sie uns so freundlich empfangen", sagt die Bundeskanzlerin auf Englisch zu den wartenden Menschen und schüttelt Hände. "Sie haben eine schöne Stadt.”
Das hören die Bewohner von Ypern gerne. Schließlich legten deutsche Geschosse die alte Handelsstadt zwischen 1914 bis 1918 in Trümmer. Der grausame Stellungskrieg zwischen deutschen und vor allem britischen Truppen kostete ungefähr eine halbe Million Soldaten das Leben.
Deshalb trafen sich die 28 Staats- und Regierungschefs der EU gestern - am ersten Tag ihres Gipfels - an diesem symbolischen Ort zu einer Gedenkzeremonie. Angela Merkel musste deshalb auf die Live-Übertragung des WM-Spiels der Fußball-Nationalmannschaft gegen die USA verzichten.
Einigkeit statt Streit, die EU als Schicksalsgemeinschaft und Friedensprojekt: Das sollten die Botschaften aus Ypern sein - bis hin zum trauten Gruppenfoto der Chefs in der Abendsonne auf dem Marktplatz. Da war auch Londons Premier David Cameron noch mittendrin in der europäischen Familie - der unermüdliche Kämpfer gegen eine Kür Jean-Claude Junckers zum Kommissionspräsidenten. Er findet den 59-jährigen Luxemburger, der 18 Jahre Regierungschef war, ungeeignet für die nötige Modernisierung Europas.
Heute - am zweiten Gipfeltag in Brüssel - will der Brite eine Abstimmung über die Personalie Juncker beantragen. Solch eine Kampfabstimmung ist einmalig, bislang wurden Kommissions-chefs einvernehmlich nominiert. Vermutlich werden alle EU-Staaten (mit Ausnahme Ungarns) geschlossen für Juncker stimmen und Cameron demonstrativ isolieren.
Daran änderte auch der von Angela Merkel mit initiierte Versuch nichts, Cameron über Inhalte ins Boot zu holen. Sie setze hier auf ein "hohes Maß an Gemeinsamkeit" mit den Briten, unterstrich Merkel gestern beim Spitzentreffen der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP). Beim Abendessen diskutierten die Chefs ein paar Stunden später über Arbeitsschwerpunkte der neuen Kommission, die heute verabschiedet werden sollen. Es geht vor allem um die Wettbewerbsfähigkeit von Europas Staaten, um Hilfe für diejenigen, die unter der Krise am meisten zu leiden hatten, um weniger Abhängigkeit von russischem Gas.
Streit gab es bis zuletzt zwischen Verfechtern strenger Haushaltsdisziplin - wie Deutschland - und Befürwortern von Wachstumsförderung mittels staatlicher Ausgaben. Sozialistisch regierte Staaten wie Frankreich und Italien fordern mehr Spielraum für Wachstumspolitik. Sie wollen mehr Zeit beim Defizitabbau und versprechen im Gegenzug Reformen. Zudem wollen sie, dass bestimmte Ausgaben nicht auf das Defizit angerechnet werden. Angela Merkel jedoch möchte den Euro-Stabilitätspakt auf keinen Fall antasten. Daher wird man sich wohl darauf einigen, die bestehende Flexibilität im jetzigen Pakt mehr als bisher zu nutzen. Denn er lässt teilweise längst zu, was die Südländer fordern. Im Übrigen wollen die Chefs zwei weitere ausstehende Top-Personalien später entscheiden. Es geht um die Nachfolge für EU-Ratspräsident Herman van Rompuy und die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton. Bei einem Sondergipfel am 17. Juli soll die Entscheidung fallen - in der Hoffnung, dass Cameron dann wieder eine Konsens-Kür mitmacht.
Bevor die EU-Chefs sich heute mit Personen und Programmen - also EU-Interna - beschäftigen, müssen sie sich um die Krise in der Ukraine kümmern. Der neue Präsident Petro Poroschenko ist zu Gast in Brüssel. Außerdem wollen die Staatenlenker die Partnerschaftsabkommen mit Georgien, Moldau und den noch fehlenden Handelsteil im Partnerschafts-Vertrag mit der Ukraine unterzeichnen. Dabei wird es auch um die Frage gehen, ob die EU Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Bundeskanzlerin Merkel sagte gestern: "Wir werden daher darüber sprechen, inwieweit wir bei den Sanktionen weitergehen müssen oder inwieweit es in den nächsten Stunden doch noch Fortschritte gibt."