Träum' dich weg

Super. Mega. Giga. An vielem darbt dieses Land, nicht aber an Bescheidenheit. Nie war es einfacher, ein Star zu werden, nie war es schwieriger, ein Star zu sein - und zu bleiben. Über Nacht bringt das Fernsehen immer neue Helden zur Welt, per Kaiserschnitt, ohne den langen Weg durch den Geburtskanal.

Schwups, ganz plötzlich sind sie da. Behandelt mit der Ehrfurcht einer Klosterschwester, die das Turiner Grabtuch zusammenlegt. Geld, Glitzer, Ruhm, versprochen! Ein Leben auf der Überholspur, garantiert! Doch nichts dräut schneller als die nächste Götterdämmerung. Die unerträgliche Seichtigkeit des Seins bestimmt das Bewusstsein. Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir? Die uralten Rätselfragen der Menschheit scheinen weniger beantwortet denn je. Krisen-Geschrei ertönt allerorten, erst recht, seit Wahnsinnige die Türme des World Trade Centers zum Einsturz brachten (und damit große Teile der westlichen Weltanschauung). Das Trauma des 11. September. Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun? Was ist der Mensch? Die Verunsicherung wirkt lähmend: Orientierungs-Krise, Sinn-Krise, Gesellschafts-Krise. "Der Mensch flüchtet vor seiner Angst in die Zerstreuung. Sie ist so allgegenwärtig, dass sie an die Stelle Gottes getreten ist", behauptet der französische Kulturkritiker Frédéric Beigbeder. Ablenkung findet sich reichlich im globalen Mediendorf. Fernsehen, Internet, Playstation spendieren auf Wunsch das Leben aus zweiter Hand, die Transformation an einen anderen (schöneren, besseren, weniger langweiligen?) Ort. Vergessen ist das Adornosche 68er-Credo, es gebe kein richtiges Leben im falschen. Die mediale Beschleunigung versperrt den Blick auf das Echte und Originale. Werte, einst für Generationen erstrebenswerte Ideale, verblassen immer rascher. Den Zeitgeist verkörpern hierzulande die Bohlens, Feldbuschs, Küblböcks. Niemand entkommt der Verstrickung. Alle Kritiker des Medienwahns haben ein Fernsehgerät. Alle Verächter der Konsumgesellschaft verfügen über eine Visa-Card, spottet Monsieur Beigbeder. "Zum ersten Mal in der Geschichte des Planeten Erde haben die Menschen aller Länder dasselbe Ziel: genug Geld zu verdienen, um wie die Werbung zu werden." Kann das wirklich alles sein? In Zeiten der Krise gehen die Leute auf Nummer Sicher. Mode, Fernsehshows, Bestseller - es wird kopiert, was das Zeug hält. Die 70er, die 80er, die Ostalgie: Auf dem Gebraucht-Markt der Unterhaltung kursieren Raubkopien, Selbstkopien, Sicherheitskopien, wehklagen die Feuilletonisten. Remake, Revival, Retro - aus Sperrmüll, längst kompostiert und verrottet, entstehen im Kreislauf der Wiederverwertung sagenhafte Verkaufsschlager. Experimente, Erfindungslust? Fehlanzeige. Einst galt: no risk, no fun (ohne Risiko kein Spaß). Heute: Spaß ja, aber bitteschön kein Risiko. Träum' dich weg, raus aus der tristen Wirklichkeit. Vertreib' die Zukunftsangst, die wie Mehltau über Deutschland liegt: gewaltige Staatsverschuldung, die Wirtschaft dümpelt, hohe Arbeitslosigkeit. Und die Politik? Was bleibt beim Normalmenschen hängen, neben "Enthüllungen" über Schröders Schopf, Fischers Frauen oder Merkels Mode? Endloses Palaver, zähes Ringen um Veränderungen, kleine Fluchten aus dem Stillstand, so gemächlich wie das Driften der Kontinente. Was fehlt: die Reform der Reformfähigkeit, der Mut zur Revolution. Einer klitzekleinen nur. Doch dazu müsste man ja den Rasen betreten. Die Lenker der Berliner Republik passen sich dem Zeitgeist an, setzen der geistig-moralischen Verflachung nichts entgegen. Kein Wagemut, keine Impulse, keine Kreativität. Lieber auf bekannte Rezepte zurückgreifen, gut durchrühren und den Brei mit viel Tamtam als nie dagewesenen Gipfel der Kochkunst auftischen. Rürup hier, Herzog da, Agenda 2010 und Hartz einszweidreivier. Das hat etwas von Gebetsmühle. Und das Volk wendet sich mit Grausen. Soziale Fortschrittsvisionen? Politische Utopien gar? Weit und breit nicht in Sicht. Statt dessen: krampfhaftes Klammern an Umfrage-Ergebnisse, die Politik bestimmen wie Einschaltquoten das Fernsehprogramm. In den Talkshows zanken sich die üblichen Verdächtigen über Steuergesetze, wuchernde Bürokratie und das kranke Gesundheitssystem. Die leichte Variation des ewig Gleichen. Einig sind sie sich, oh ja: So geht es nicht weiter, es muss etwas geschehen, und zwar schleunigst! Wenn am nächsten Tag regiert wird, bewegt sich - nichts. Nackte Angst, die Wählerklientel könnte verschreckt das Weite suchen - und womöglich finden. In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Mehr Mut! "Krise ist ein produktiver Zustand", sagt der Schriftsteller Max Frisch. "Man muss ihr nur den Beigeschmack von Katastrophe nehmen." p.reinhart@volksfreund.de

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