Tsipras kämpft für den Schuldenschnitt

Brüssel · Mehrere Krisentreffen sollten am Montag eine Lösung für Athens Probleme bringen. Die Finanzminister aber reisten ohne Vorlage für den abendlichen Gipfel ab. Premier Tsipras ist das recht: Er will eine offene Debatte über einen Schuldenschnitt.

Brüssel. Der Tag, der über Griechenlands Zukunft in der EuroZone entscheiden könnte, beginnt mit versöhnlichen Tönen: "Das, was ich der Presse gerade auf Griechisch gesagt habe, entspricht genau Deiner Position", sagt Athens Premier Alexis Tsipras zu seinem Lieblingsverhandlungspartner Jean-Claude Juncker. Der EU-Kommissions-chef will zwar nicht versprechen, dass bis zum Abend eine Einigung gelingt, aber sein deutscher Kabinettschef Martin Selmayr hat in der Nacht zuvor getwittert, die neuen griechischen Spar- und Reformvorschläge seien "eine gute Grundlage", um die restlichen Hilfsgelder von insgesamt 18 Milliarden Euro auszahlen und in letzter Minute die griechische Zahlungsunfähigkeit doch noch verhindern zu können.
Ein Regierungsvertreter Belgiens teilt diesen Optimismus nicht, berichtet aber doch klaren Alternativen, zwischen denen die Staats- und Regierungschefs bei ihrem für den Abend angesetzten Krisentreffen wählen könnten. So käme der griechische Vorschlag den Forderungen der Gläubiger bei den strittigen Themen Rente und Steuern weit entgegen. Athen stelle dafür aber eine Bedingung, die es seit der Wahl im Januar immer genannt hat - einen Schuldenschnitt: "Es hängt jetzt alles davon ab, wie hoch Merkel und Hollande den geopolitischen Kollateralschaden eines ,Grexit\' einschätzen", sagt der Diplomat, "und ob sie deshalb lieber etwas schlucken, das noch vor wenigen Tagen undenkbar schien".

Ob Entscheidungen dieser Tragweite in der Nacht überhaupt fallen können, interpretieren die Akteure bei ihrer Ankunft in Brüssel ganz unterschiedlich. Zumindest hört es sich so an. Der Ratsvorsitzende Donald Tusk aus Polen meint, es seien "einige vielversprechende Dinge passiert, seit ich diesen Sondergipfel einberufen habe". Auch Frankreichs Staatschef François Hollande spricht davon, dass Athens Regierung mit den "besseren und präziseren Vorschlägen" nun endlich "ihrer Verantwortung gerecht geworden" sei. Auf dieser Basis, so Hollande, könne man jetzt "eine dauerhafte politische Lösung" diskutieren. Kanzlerin Angela Merkel sagt, dass in dieser Nacht nur "ein Beratungsgipfel" stattfinden könne, da ihr und den Kollegen "keine Entscheidungsgrundlage" vorliege.
Formal stimmt das. Die Finanzminister nämlich, die die abendliche Zusammenkunft ihrer "Chefs" am Nachmittag vorbereiten sollten, haben gar nicht genug Zeit gehabt, um den neuesten Vorschlag der Griechen vom Montagmorgen zu studieren. Weil Athen am Sonntagabend angeblich versehentlich den falschen übermittelt hat, spricht der irische Minister Michael Noonan von einem "nächtlichen Durcheinander". Kollege Wolfgang Schäuble befindet sich keine drei Stunden später schon wieder auf dem Rückweg zum Brüsseler Flughafen. Die Stimmung auf der Fahrt ist "unerfreulich", heißt es später in der deutschen Delegation - auch weil der griechische Kollege Gianis Varoufakis "wieder einen denkwürdigen Auftritt hatte und wieder einen Schuldenschnitt forderte". Für die Finanzminister ist das eine rote Linie. Erst müsse das laufende Programm ordnungsgemäß beendet werden.
Zumindest aber hat die Eurogruppe erstmals anerkannt, dass die neuen Vorschläge "eine solide und umfassende Basis für eine Einigung später in dieser Woche" darstellen könnten, wie ihr niederländischer Vorsitzender Jeroen Dijsselbloem nach der Sitzung mitteilt. Deshalb könnte es noch diese Woche ein weiteres Ministertreffen geben - wenn die Finanzexperten zu einem positiven Urteil gelangen. In der Kürze der Zeit haben EU-Kommission, EZB und IWF noch nicht berechnen können, was das Papier aus Athen konkret in Zahlen bedeutet.
Dass der Eurogipfel nur ein weiterer Akt im griechischen Drama sein würde, ist also schon klar gewesen, bevor Merkel in Brüssel eingeschwebt ist - aber möglicherweise dennoch ein entscheidender. Im Umfeld des Sitzungsvorsitzenden Tusk werden die Ziele des Abends klar benannt. Erstens soll "den im Kreise der Finanzminister festgefahrenen Verhandlungen eine neue Dynamik verliehen werden". Und zweitens sollen alle Teilnehmer ihre roten Linien klar benennen - etwa bei Schuldenerleichterungen: "Wenn Tsipras in der Nacht das Gebäude verlässt, sollte er keine Illusionen mehr darüber haben, was geht und was nicht." Am späten Abend ist noch nicht klar, ob er möglicherweise eine informelle Zusage für einen Schuldenerlass bekommt von diesem Gipfel, den er immer wollte, um auf höchster politischer Ebene über die Zukunft seines Landes zu reden.Extra

Experten sind sich einig: Folgende Faktoren haben zur Krise in Athen geführt: Strukturschwächen: Die Wirtschaft krankt an mangelnder Exportkraft. Griechenland hat kaum eigene Industrie. Die Agrarwirtschaft kann den Bedarf der Bevölkerung an Lebensmitteln nicht decken. Als größter Wirtschaftszweig läuft nur der Tourismus noch gut. Das Rentensystem gilt als extrem reformbedürftig. Defizit: Das Haushaltsdefizit lag 2009 auf dem extrem hohen Niveau von 15,4 Prozent. Es soll nun auf etwa zwei Prozent gedrückt werden. Sparmaßnahmen trafen vor allem die sozial Schwachen. Weil der Gürtel immer enger geschnallt wird, wird immer weniger konsumiert. Der Wirtschaftsabsturz führte zu Entlassungen: Jeder zweite junge Mensch ist ohne Job. Schulden: Aktuell liegt die Schuldenquote Griechenlands bei etwa 180 Prozent der Wirtschaftsleistung. Steuerhinterziehung: Dem Staat entgeht viel Geld wegen Korruption, Vetternwirtschaft und Steuerbetrugs. Experten zufolge würde Griechenland binnen zehn Jahren schuldenfrei sein, wenn es Steuerhinterziehung erfassen und Abgaben - etwa die Mehrwertsteuer - eintreiben könnte. Dynastien: Etwa 1000 Familien und wenige Politikerdynastien beherrschen den Staat und besitzen große Teile des Landes und der Wirtschaft. dpa

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