Türkei will neue Beitrittsgespräche, Kostenersatz und Visumsfreiheit

Brüssel · Die Brüsseler Grundsatzeinigung mit der Türkei soll die Zahl in der EU ankommender Menschen drastisch senken. Es bleiben aber viele Details zu klären, die rechtlichen Bedenken sind groß, und der Preis ist hoch.

Brüssel. An großen Worten hat es nicht gefehlt. "Die Tage irregulärer Einwanderung sind vorüber", sagte Gipfel-Gastgeber Donald Tusk nach der vorläufigen Einigung mit Ankaras Premier Ahmet Davutoglu auf eine enge Kooperation zur Sicherung der EU-Außengrenze zwischen Griechenland und der Türkei. Kanzlerin Angela Merkel sprach von einem "Durchbruch", fügte aber vorsichtig hinzu, "wenn er realisiert wird". Bis zum Gipfel nächste Woche gilt es nämlich Bedenken zu entkräften und viele offene Fragen zu klären.
Wen nimmt die Türkei zurück? Bisher war im Zuge eines existierenden EU-Rücknahmeabkommens mit der Türkei geplant, dass sie vom 1. Juni an nach Griechenland übergesetzte Bootsflüchtlinge ohne Asylgrund wieder bei sich aufnimmt. Das wären zum Beispiel Nordafrikaner gewesen, die nicht vor Krieg fliehen, sondern "nur" ein besseres Leben suchen. Die neue Grundsatzeinigung sieht vor, dass "alle neuen irregulären Migranten" von den griechischen Inseln aus abgeschoben werden - also auch Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Dieser Abschreckungseffekt soll sie davon abhalten, Geld zu bezahlen und ihr Leben zu riskieren, da es ohnehin wieder zurückgeht. "Ein Boot zu besteigen", heißt es in der Gipfelerklärung, "darf nicht gleichbedeutend sein mit der Ansiedlung in Europa."
Wann soll es damit losgehen? Den Startschuss für das neue Grenzschutz-Prozedere würde Kanzlerin Merkel am liebsten schon in den nächsten Tagen und Wochen geben. EU-Diplomaten zufolge könnte damit begonnen werden, "sobald die griechischen Inseln von bereits dort angekommenen Flüchtlingen geleert sind". Die Ende September beschlossene europaweite Verteilung ist freilich bisher so langsam angelaufen, dass dies länger dauern könnte als erhofft.
Ist das überhaupt legal?
Wenn ein Flüchtling trotz Schutzbedürftigkeit aus der EU ausgewiesen wird, hat er seinen individuellen Asylanspruch verloren. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker hält das dennoch für rechtlich sauber, da Griechenland die Türkei zum sicheren Drittstaat erklärt hat, wo das Asylverfahren für den betreffenden Flüchtling dann durchgeführt werden soll. Allerdings hat die Türkei 1951 die Genfer Flüchtlingskonvention mit einem eher kuriosen geografischen Vorbehalt unterzeichnet und nur Europäer als potenziell Schutzbedürftige definiert. Aktuell 2,7 Millionen Syrer im Land sprechen eine andere Sprache, doch musste auch Juncker einräumen, dass noch "Modifikationen im türkischen und griechischen Recht" vorgenommen werden müssten. Auch Merkel glaubt, "mit der Türkei eine rechtskräftige Position entwickeln zu können". Die Grünen-Europaabgeordnete Franziska Keller wirft ihr dagegen vor, "international verbriefte Schutzrechte von Flüchtlingen zu brechen".
Wie gäbe es überhaupt EU-Asyl? Haben schutzbedürftige Syrer damit gar keinen Zugang mehr nach Europa? "Sie können auf legalem Weg kommen", sagt Merkel. Der EU-Gipfel hat sich mit der Türkei auf ein 1:1-Prinzip verständigt: "Für jeden Syrer, den die Türkei von den griechischen Inseln zurücknimmt, soll ein anderer Syrer aus der Türkei in den EU-Mitgliedstaaten neu angesiedelt werden." Dabei sollen jene bevorzugt werden, die gleich in der Türkei geblieben und nicht in ein Schlauchboot Richtung Griechenland gestiegen sind. Diese würden, so Merkel, "mit Sicherheit nicht zu denen gehören, die ausgewählt werden".
Was aber würde passieren, wenn tatsächlich niemand mehr auf Lesbos oder Kos ankäme? Würde dann auch gar niemand mehr umgesiedelt? Dann hätte, wie es aus der EU-Kommission heißt, der neue 1:1-Mechanismus ausgedient und würde durch ein freiwilliges Aufnahmeprogramm ersetzt.
Welche EU-Staaten nehmen auf? Ungarns Premier Viktor Orbán hat beim Gipfel durchgesetzt, dass der Deal mit der Türkei "den Mitgliedstaaten in Bezug auf Umsiedlung und Neuansiedlung keine neuen Verpflichtungen auferlegt". Das heißt, dass es de facto erst einmal eine Obergrenze für das sogenannte Resettlement aus der Türkei gibt: 20 000 Aufnahmeplätze dieser Art hatte die EU im vergangenen Jahr beschlossen, aber noch nicht zur Verfügung gestellt. Hinzu kommen 54 000 Plätze aus dem EU-internen Verteilungsprogramm für 160 000 Menschen von Ende September. Dieser Anteil war weder Griechenland noch Italien zugeordnet, sondern offengelassen worden. Die freiwillige Aufnahme weiterer Kontingente, für die Merkel seit Monaten an einer "Koalition der Willigen" arbeitet, hat zumindest Eingang in die Erklärung aller EU-Staaten gefunden. Fortschritte gibt es nicht.
Was kostet der Deal die EU? Der Gipfelteilnehmer haben zugestimmt, alle Kosten für Abschiebungen in die Türkei zu übernehmen. Erst vor wenigen Wochen hat die EU drei Milliarden Euro für Flüchtlingsprojekte in der Türkei bereitgestellt, nun soll es für das Jahr 2018 noch einmal so viel sein. Entscheiden will die EU darüber erst zu einem späteren Zeitpunkt. "Die Türkei bettelt nicht um Geld, wir fordern nur eine faire Lastenteilung", sagte Davutoglu in Brüssel und verwies auf Ausgaben von zehn Milliarden Euro allein für die Menschen in den Flüchtlingslagern seines Landes.
Was fordert Ankara politisch? Ankaras Premier hat bei seinem zweiten EU-Gipfelauftritt in drei Monaten keinen Zweifel daran gelassen, dass die Flüchtlingskooperation für sein Land "ein strategisches Thema" und der EU-Beitritt das Ziel ist. Der steht Merkel zufolge derzeit "nicht auf der Agenda", sie betont das strategische Interesse Europas an engeren Beziehungen. Gleichwohl wird nun die Eröffnung fünf neuer Verhandlungskapitel in den Beitrittsgesprächen vorbereitet. Speziell Zypern davon zu überzeugen, stellt der Kanzlerin zufolge ein "dickes Brett" dar. Kaum einfacher dürfte es werden, wie versprochen bis Ende Juni allen Türken die Einreise in die Europäische Union ohne Visum zu gestatten. Erst vergangene Woche hatte die EU-Kommission noch 72 offene Punkte aufgelistet.

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