TV-Reportage: "Hier ticken die Uhren anders"

Trier · Ein Morgen auf der Demenzstation eines Trierer Pflegeheimes

Doris Schreiner hat noch Zeit, einen Kaffee zu trinken. Noch ist es ruhig. Die 19 Bewohner auf der Demenzstation schlafen noch. Es ist 6 Uhr, der Frühdienst beginnt. Für die 48-Jährige aus dem saarländischen Losheim hat die Nacht bereits vor zwei Stunden geendet. Doris Schreiner ist Wohnbereichsleiterin im Seniorenzentrum der Barmherzigen Brüder in Trier.

Die Nacht war ruhig: "Keine besonderen Vorkommnisse", sagt Schreiner, nachdem sie das Übergabeprotokoll der Nachtpfleger durchgelesen hat. Allerdings ist am Abend ein Bewohner gestürzt. Eine Pflegerin hat den 75-Jährigen im Flur auf dem Boden gefunden. Stürze von dementen Heimbewohnern sind nichts Ungewöhnliches. Jeder Sturz wird in einem Protokoll festgehalten. Die Sturzprotokolle sollen helfen, Stürze zu vermeiden.

Um 6.30 Uhr macht Doris Schreiner ihren ersten Rundgang an diesem Morgen, schaut in das ein oder andere Zimmer hinein. Fast überall ist es noch dunkel. Die Bewohner werden nicht geweckt. Sie dürfen aufstehen, wann sie wollen. Es gibt keine feste Frühstückszeit. Es komme auch schon mal vor, dass jemand bis elf Uhr schlafe, sagt die Altenpflegerin. Die Bewohner sind in drei Gruppen eingeteilt. Tagsüber ist eine Pflegerin jeweils für sechs Bewohner zuständig. Das sei ideal, sagt Schreiner. Sie habe in den 20 Jahren, in denen sie in dem Job arbeite, in anderen Heimen auch schon erlebt, dass eine Pflegerin für alle Bewohner einer Station zuständig gewesen sei.

Im Tagesraum sitzt ein Mann und trinkt seinen Kaffee. In der Ecke steht ein Aquarium. Mit der Tasse in der Hand schaut der Mann den Fischen zu. Es ist 7.30 Uhr. "Schmeckt es?" fragt Doris Schreiner eine Frau, die ein Marmeladenbrot isst. "Wollen Sie noch einen Kaffee?" Schreiner füllt die Tasse. Das gehöre zur individuellen Betreuung, sagt die Stationschefin. Im Dienstzimmer klingelt das Telefon. Eine Küchenhilfe ruft an, dass sie heute nicht kommen kann, sie ist abends ins Krankenhaus gekommen. "Gute Besserung", sagt Schreiner, noch während sie bereits am Dienstplan an der Wand schaut, wer nun den Dienst übernehmen kann.

Um 7.50 Uhr klopft Schreiner an eine Zimmertür. "Wollen wir aufstehen?", fragt sie die Frau, während sie die Vorhänge in dem 25 Quadratmeter großen Zimmer aufzieht. Sie nimmt deren Hand, tätschelt sie: "Na, wie geht es, meine Liebe?" Der persönliche Kontakt zu den Bewohnern sei wichtig, erklärt Schreiner. Von Hektik ist keine Spur. Die Stationsleiterin nimmt sich viel Zeit. "Wollen wir ins Bad gehen?" Sie hilft der Frau aus dem Bett. Doch sie geht am Bad vorbei, will im Nachthemd aus dem Zimmer. Zehn Minuten dauert es, bis Schreiner der Frau geholfen hat, sich anzuziehen.

Auf dem Flur dreht zum vierten Mal ein Mann seine Runden. Es ist 8.05 Uhr. "Guten Morgen", sagt er zu jedem, den er sieht - immer wieder. Er kann sich nicht merken, wen er schon gegrüßt hat. Abwesend dreht er seine Runden. Der Ex-Polizist ist kurz nach seinem Ruhestand dement geworden, lebt seit ein paar Monaten in dem Heim. Viele Demenzkranke sind orientierungslos. Damit sie nicht weglaufen, haben sie Sender am Bein. Sobald sie sich der Eingangstür nähern, geht diese automatisch zu.

An vielen Zimmertüren hängen Schwarz-Weiß-Bilder. Die Fotos zeigen oft Jugendbilder der Bewohner. "Leni" steht mit Filzstift auf einem aus Pappe ausgeschnittenen grünen Stern neben einem Bild. Auch in den Fluren hängen historische Fotos, alte Stadtansichten von Trier. Demenzkranke lebten in ihrer Welt, erklärt Schreiner. Viele könnten sich nur noch an ihre "jungen Jahre" erinnern.

"Eine gute Tasse Kaffee und ein Brot." Schreiner bringt einer Frau ihr Frühstück an den Tisch im Tagesraum. Alleine essen kann sie nicht. Die Stationsleiterin hilft, reicht ihr immer wieder ein Stück Brot, führt die Kaffeetasse zu deren Mund. "Man darf nicht auf die Uhr schauen", sagt die 48-Jährige. Es ist 8.20 Uhr. "Hier ticken die Uhren einfach anders." Nebenan am Tisch sitzt eine Ordensschwester. Seit ein paar Wochen wird sie auf der Station betreut. Vor ihr steht ein Teller mit Brot. Sie schaut nur vor sich, isst nichts. Einige Bewohner hätten vergessen, warum der Mund da ist, sagt Schreiner. Eine Heimmitarbeiterin gibt ihr kleine Häppchen. "Kauen, schlucken, kauen", erklärt sie der Frau bei jedem Bissen.


Im Hintergrund läuft Musik. "Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus." Ein Frau am Frühstückstisch singt mit, während sie ihr Brot in Kakao tunkt. Ein Mann steht immer wieder vom Tisch auf. Er kann nicht ruhig sitzen. "Wo wollt ihr denn hin?", fragt eine Pflegerin den Mann.

Schreiner ist wieder unterwegs auf der Station. Um 8.40 Uhr zieht sie die Vorhänge in einem Zimmer zurück. "Wollt ihr aufstehen?" fragt sie die Frau. Keine Antwort. Schreiner nimmt die Hand der Bewohnerin. Streichelt deren Wange. "Meine Mutter, wo ist meine Mutter?" fragt die verwirrte Frau. Mit einem Waschlappen fährt die Stationsleiterin über Hände, Arme und durch das Gesicht. Dann hilft sie der 81-Jährigen beim Anziehen.

Um 9.10 Uhr ist mehr Bewegung in den als Rundgang angelegten Fluren als noch vor drei Stunden. Trotzdem geht es nicht hektisch zu. Obwohl viele der Bewohner auf der Station darauf angewiesen sind, dass ihnen ständig jemand hilft, haben die Pfleger immer noch Zeit, ein Schwätzchen mit den Alten zu halten. Der menschliche Umgang sei es, der ihr an diesem Heim so gut gefalle, sagt Schreiner. In vielen Heimen fehlte den Mitarbeitern die Zeit, um sich mit den Bewohnern zu unterhalten. Es sei genau festgelegt, wie lange Waschen und Anziehen dauern dürften. Auf die Bedürfnisse der Bewohner werde dort keine Rücksicht genommen.

"Da kommt ja mein Schatz", sagt sie zu einer Bewohnerin, die gerade von einer Pflegerin in den Tagesraum zum Frühstücken geführt wird. "Der lachende Vaga bund", singt Fred Bertelmann im Hintergrund. Obwohl es fast 10 Uhr ist, haben noch nicht alle Bewohner gefrühstückt. Einige liegen noch in ihren Betten.

Schreiner geht wieder in ihr Dienstzimmer. Noch vier Stunden bis zum Feierabend um 14 Uhr. Das Telefon in ihrem Dienstzimmer klingelt. Fast pausenlos. Als Chefin von zehn Pflegefachkräften, neun Hauswirtschafterinnen und zwei sozial begleitenden Fachkräften, die für die Betreuung der Bewohner zuständig sind, ist Schreiner mehr als nur Pflegerin. Sie muss organisieren, Dienstpläne machen, protokollieren. Jeder Handgriff muss schriftlich festgehalten werden. "Wir schreiben uns noch zu Tode", beschwert sich die Stationsleiterin über die zunehmende Bürokratie. Trotzdem sei sie noch immer fasziniert von ihrer Arbeit. Wichtig sei, dass man abschalten könne, sonst komme man mit dem psychischen Druck nicht klar, sagt sie, während sie sich um den Dienstplan für den nächsten Monat kümmert.

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