Unglücksflug 9642: Von Berlin in den Tod
Luxemburg · Der Katastrophe am 9. November 2002, dem Absturz einer Luxair-Propellermaschine, folgte eine beispiellose, jahrelange juristische Auseinandersetzung. Bei dem heute beginnenden Prozess vor dem Luxemburger Bezirksgericht geht es auch darum, inwieweit die Fluggesellschaft eine Mitschuld an dem Unglück hat, bei dem 20 Menschen starben.
Luxemburg. Um 9.52 Uhr übergibt die deutsche Flugsicherung Luxair-Flug LG 9642 kurz vor der luxemburgischen Grenze an die Anflugkontrolle des Flughafens Findel. Die Maschine, die mit drei Minuten Verspätung um 8.43 Uhr in Berlin-Tempelhof gestartet ist, fliegt zu dieser Zeit in 3000 Metern Höhe und befindet sich bereits im Sinkflug. Noch knapp 20 Minuten bis zur geplanten Landung. Bis dahin ist der Flug problemlos verlaufen. Die 1991 in Dienst gestellte Maschine ist erst einen Tag zuvor in der jährlichen Generalinspektion gecheckt worden. Es herrscht dichter Nebel über dem Flughafen, die Sicht liegt unter 50 Metern.
Um 9.56 Uhr kündigt der Co-Pilot den Passagieren in der Fokker 50 an, dass man sich im Landeanflug auf Luxemburg befindet. Noch hat die Flugsicherung keine Landeerlaubnis gegeben, die Sicht ist zu schlecht.
Im Tower auf dem Flughafen wird kurzzeitig erwogen, die Maschine nach Saarbrücken umzuleiten. Schließlich erteilt ein Fluglotse trotz des dichten Nebels die Landeerlaubnis, nachdem zuvor der Pilot bereits den Landeanflug gestartet hat - angeblich ohne seinen Co-Piloten darüber zu informieren.
Gerade mal 600 Meter beträgt die Flughöhe, das Fahrwerk ist ausgefahren, als gegen 10.06 Uhr die Maschine abrupt von den Bildschirmen der deutschen Flugsicherung verschwindet. Der Luxair-Flieger stürzt auf ein Feld zwischen den Dörfern Roodt-Syr und Niederanven, 5000 Meter vor der Landebahn, die Maschine bricht entzwei, fängt Feuer.
"Oh merde" (Oh Scheiße) sind die letzten Worte des Co-Piloten, die später auf dem aus der geborstenen Maschine geborgenen Stimmen-Rekorder zu hören sind. Im einen Jahr später vorgelegten Untersuchungsbericht zum Flugzeug-Unglück ist vom Chaos im Cockpit vor dem Absturz die Rede, von fehlenden Absprachen zwischen dem damals 27-jährigen Piloten und seinem Co-Piloten, von Missachtung von Anweisungen aus dem Tower, von eigenmächtigen Entscheidungen des Kapitäns.
Zwei Menschen überleben
Das 180 Seiten starke Dokument belegt eindeutig, dass der Pilot mit seiner eigenmächtigen Entscheidung, den Landeanflug nicht abzubrechen, und mit der Einleitung der Schubumkehr, vermutlich um die Geschwindigkeit der Maschine zu drosseln, wodurch die Propeller abrupt zum Stillstand gekommen sind, mit schuld ist an der Katastrophe. Eine Katastrophe, die 20 Menschen das Leben kostet. 15 Insassen sterben noch am Unfallort, fünf weitere im Krankenhaus oder auf dem Transport dorthin. Nur der Pilot, Sohn des damaligen Flugdirektors von Luxair, und ein franzöischer Passagier überleben schwerstverletzt.
Was in den Monaten nach dem bislang schwärzesten Tag in der Geschichte der seit 50 Jahren bestehenden Fluggesellschaft Luxair folgt ist beispiellos. Obwohl der Abschlussbericht eindeutig Piloten und auch der Fluggesellschaft die Schuld an dem Unglück gibt, schieben diese sich gegenseitig die Verantwortung zu. Der damalige Luxair-Chef Christian Heinzmann sieht in den Piloten die einzigen Schuldigen, er feuert ihn und seinen Vater, sowie fünf weiter Piloten fristlos.
Es kommt zum Eklat. Die Pilotengewerkschaft droht mit einem Streik aller Luxair-Piloten. Erst in letzter Minute wird der Streik abgewendet, Luxair muss die Entlassungen, außer der des Unglückspiloten, rückgängig machen. Kurze Zeit später gerät der damalige Luxair-Chef ins Visier der Ermittler, sie geben ihm eine Mitschuld am "System Luxair", das durch mangelnde Kontrollen und mehr oder weniger eigenmächtig agierenden Piloten, mit zur Katastrophe beigetragen hat. Heinzmann wird angeklagt, muss seinen Stuhl räumen
Doch die juristische Aufarbeitung des Unglücks verzögert sich. Immer wieder wird die Liste der Angeklagten erweitert, zunächst sollen auch Verantwortliche der luxemburgischen Luftfahrtbehörde und der Wartungsfirma des Jahre zuvor Pleite gegangenen niederländischen Flugzeugherstellers Fokker auf der Anklagebank sitzen.
Immer wieder erheben die Angeklagten Einsprüche, beantragen Gegengutachten.
Und immer wieder wird der Prozessbeginn verschoben. Im Sommer dieses Jahres steht dann fest: Christian Heinzmann wird zusammen mit dem Piloten, zwei früheren Luxair-Chefs und drei für Technik, Engineering und Planning verantwortlichen Mitarbeitern von heute an auf der Anklagebank der 9. Kriminalkammer des Luxemburger Bezirksgerichts sitzen.
Fast auf den Tag genau neun Jahre nach dem Unglück. Für den heute beginnenden Prozess vor der 9. Kriminalkammer des Luxembuger Bezirksgerichts sind sechs Wochen eingeplant. Das Verfahren läuft anders als in Deutschland ab. Zu Beginn geht es in erster Linie um organisatorische Fragen, beispielsweise darum, welche Zeugen geladen werden sollen. Es ist vorgesehen, dass heute bereits einer der Gutachter zu Wort kommt. Die Anklageschrift wird, anders als in deutschen Strafprozessen nicht verlesen. In den folgenden Tagen sollen die Sachverständige und Gutachter befragt werden. Dann äußern sich die Angeklagten zu den Vorwürfen - es folgen die Plädoyers von Anklägern und Verteidigern. Erst im Anschluss daran stellt die Staatsanwaltschaft ihren Antrag auf mögliche Strafen. Acht Hinterbliebene von Absturzopfern treten im Prozess als Nebenkläger auf. Das Prozessende ist für den 24. November geplant. Dann ziehen sich die Richter zur Beratung zurück. Das Urteil wird erst Mitte Februar 2012 erwartet. wie/dpa