Unter Zugzwang

Die US-Regierung macht es sich zu leicht, das Geschehen auf den irakischen Straßen als die Taten einiger weniger Krimineller abzutun. Der junge Schiitenführer und Heißsporn Al-Sadr, der derzeit die größte Herausforderung für die US-Regierung darstellt, verfügt über eine nicht unbeträchtliche Zahl von Anhängern, die nun im Hinblick auf die anstehende offizielle Machtübergabe im Irak rücksichtslos alles versuchen, um ihre Ausgangsposition und künftigen Einflussmöglichkeiten zu verbessern.

Damit stehen die USA vor einer der größten Herausforderungen seit dem 1. Mai vergangenen Jahres, an dem Präsident George W. Bush - erkennbar vorschnell - auf einem Flugzeugträger das Ende der Hauptkampfhandlungen bekannt gab. Halten sich die US-Truppen künftig zurück, riskieren sie, als "weich” eingestuft zu werden und bei einer Bevölkerung den Respekt zu verlieren, die traditionell nur das "Recht des Stärkeren” kennt. Der Gesetzlosigkeit würden damit weitere Türen geöffnet. Ohnehin haben die Strategen in Washington schon viel zu lange mit Samthandschuhen agiert: So hat es bislang keinerlei Militärtribunale und abschreckende Urteile gegen jene Extremisten gegeben, die bei Attacken gegen Koalitionstruppen oder Zivilisten festgesetzt werden konnten. Auch musste sich bisher kein Mitglied des Regimes von Saddam Hussein für jene Vielzahl an Menschenrechtsverletzungen verantworten, die in Hülle und Fülle dokumentiert sind und an denen es keine Zweifel gibt. Seit einem Jahr ist die Justiz im Irak faktisch nicht präsent - und damit auch keine Abschreckung. Dies hat zu der Erosion der Lage beigetragen, die sich auch dadurch manifestiert, dass nun hektisch eine Aufstockung der US-Truppen erwogen wird. Bush, der sich immer häufiger mit dem "Vietnam”-Begriff konfrontiert sieht, muß nun also über das kleinere Übel entscheiden: Lässt er Gewaltausbrüchen und Anarchie in manchen Gegenden des Irak freien Lauf - oder verfolgt er nun eine härtere Marschroute, die zweifelsohne zu weiterem Blutvergießen führen wird, aber beim Abwägen beider Optionen am Ende als einziger Ausweg aus dem akuten und nicht übersehbaren Dilemma erscheint? nachrichten.red@volksfreund.de

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