(Update) Fassungslosigkeit, Wut, Schock - Der Tag des Terrors begann kurz vor Acht

Brüssel · Die Anschläge am Flughafen und im Europaviertel versetzen Belgien in Schock. In den letzten Monaten und speziell Tagen gab es immer neue Hinweise darauf.

Stolz flattert die riesige belgische Fahne zwischen den Säulen des großen Tores, das den Eingang zum Parc CinquAntenaire und dem Europaviertel markiert. Noch. Zu diesem Zeitpunkt am Dienstagvormittag haben die Behörden anderes zu tun, als die Flagge auf Halbmast zu setzen. Lange wird es damit sicher nicht mehr dauern, nachdem zwei fast zeitliche Bombenattentate in der belgischen wie europäischen Hauptstadt mindestens 30 Tote gefordert haben. Fassungslosigkeit, Wut, Schock - die Trauer wird folgen.

Vor dem Ratsgebäude, wo erst vier Tage zuvor die Staats- und Regierungschef zum EU-Gipfel zusammengesessen sind, sitzt ein älterer Mann im Rollstuhl, eingehüllt in eine silberne Wärmedecke. Sanitäter umsorgen ihn. Die erste Information, dass auch hier an der Station Schuman eine Explosion stattgefunden hat, entpuppt sich glücklicherweise bald als falsch. Die Tragödie findet eine Haltestelle weiter statt.

Immer neue Polizeifahrzeuge und Krankenwagen rasen die Rue de la Loi hinunter, die zentrale Achse durch EU-Bürotürme hindurch. Die Sicherheitskräfte haben sie kurz vor der Metrostation Maalbeek abgesperrt, wo kurz nach neun Uhr eine Explosion einen U-Bahn-Wagen zerfetzt hat. Ein Helikopter schwebt knatternd über der surrealen Szenerie. Der Eingang dieser Metro befindet sich in einem Bürogebäude, viel zu sehen ist daher nicht. Dann rollt ein Omnibus heran. Wurde der öffentliche Nahverkehr also doch nicht bis auf Weiteres untersagt? Nein. Als Zielort ist das Krankenhaus im nahen Stadtteil Etterbeek angegeben.

Fotos, die kurz darauf auf dem Kurznachrichtendienst Twitter erscheinen, zeigen grotesk verbogene Türen und von Asche und Ruß schwarze Sitzreihen der Bahn, mit der mindestens 20 Menschen in den Tod gefahren sind. Seltsam vertraut sieht der zerstörte Zug dennoch aus, in dem man selbst in den vergangen Tagen vielleicht noch gesessen ist.

Schon bald berichten Freunde Bekannte, wie knapp sie nur selbst dem Terroranschlag entgangen sind. Eine 43-jährige Deutsche ist etwas später als sonst zur Arbeit aufgebrochen und hat nur noch die Rücklichter der U-Bahn gesehen, ehe eine Durchsage die Wartenden zum Verlassen der Station aufgefordert hat und die Polizei sie geräumt hat. Ein Journalistenkollege, der im Brüsseler ARD-Büro arbeitet und normalerweise genau diese Bahn nimmt und in Maalbeek aussteigt, erzählt, dass er an diesem Tag zufällig einen Arzttermin gehabt hat. Der Zufall entscheidet an diesem Tag in Brüssel über Leben und Tod. Ein anderer Berichterstatter ist früher ins Büro gefahren als an allen anderen Tagen - weil er vom Anschlag am Flughafen gehört hat.

Um 7.50 Uhr hat der Tag des Terrors begonnen. Attentäter zünden am Brussels Airport im Vorort Zaventem zwei Sprengsätze. In Panik fliehen die Menschen aus der völlig zerstörten Abflughalle und strömen ins Freie. Es dauert Stunden, bis alle neu gelandeten Passagiere evakuiert sind, manche müssen vorerst neben den Maschinen auf dem Rollfeld ausharren - kurz darauf werden alle Flüge von und nach Brüssel gestrichen. So wie in der U-Bahn haben die Täter hier mitten in der Rushhour zugeschlagen, wenn im Minutentakt Flieger aus ganz Europa landen, um Minister, Beamte, Parlamentarier, Lobbyisten und einfache Bürger zu den EU-Institutionen zu bringen. Sie haben, das steht schnell fest, mitten ins Herz Europas gezielt.

Vom Horror im Innern des Flughafengebäudes erzählen Augenzeugen, die das Inferno überlebt haben, den Reportern des belgischen Fernsehens. "Menschen wurden in die Luft geschleudert, abgerissene Arme und Beine flogen herum", berichtet eine Frau. Es sei "auf Arabisch geschrien" worden. Auf dem Video eines Fahrgastes einer nachkommenden U-Bahn, die vor der Station Maalbeek halten und evakuiert werden musste, sind herzzerreißend weinende Kinder zu hören.

Am frühen Nachmittag finden die Ermittler am Flughafen einen Sprengstoffgürtel, der nicht gezündet wurde. Die Opferzahl ist auch so schon hoch genug, von mindestens zehn Toten am Airport sprechen die Behörden zu diesem Zeitpunkt. Bezeichnenderweise direkt vor den Schaltern der heimischen Fluglinie Brussels Airlines haben sich die Attentäter in die Luft gesprengt, möglicherweise ein Zeichen dafür, wie groß ihr Hass auf das eigene Land, ihre eigenen Mitbürger ist. Die behördliche Mitteilung gibt nämlich nebenbei den ersten offiziellen Hinweis darauf, dass es sich um Selbstmordattentäter gehandelt hat. Und dass eben noch mindestens einer der Terroristen in der Stadt unterwegs sein könnte. "Wir befürchten, dass Personen noch auf freiem Fuß sind", sagt der belgische Außenminister Didier Reynders am Nachmittag.

Dieser so traurige Tag hat die Brüsseler Bevölkerung nicht völlig aus heiterem Himmel getroffen. Dass es ein Anschlag mit Ansage gewesen ist, hat auch mit eben jenem Reynders zu tun. Nachdem erst am Freitag Europas meistgesuchter Terrorist Salah Abdeslam gefasst worden war, ein Mittäter der Pariser Anschläge vom November, sagte der Minister, der Verhaftete sei "bereit gewesen, in Brüssel erneut etwas zu versuchen". In dessen Wohnung waren zuvor schwere Schusswaffen und Hinweise auf weitere Anschlagsplanungen gefunden worden. Kurz darauf relativierte Reynders seine Aussage, doch scheint nun klar, dass andere Mitglieder seiner Terrorzelle den nun in einem Gefängnis in Brügge einsitzenden Topverdächtigen rächen wollten. Dass der ursprünglich aus Marokko stammende Salah Teil eines größeren Netzwerks ist, wissen die Ermittler. Davon zeugt allein schon die Tatsache, dass sich der Gesuchte über Monate im Problemstadtteil Molenbeek verstecken konnte. "Wir sind noch weit davon entfernt, dass Puzzle fertiggestellt zu haben", sagte Belgiens Generalstaatsanwalt Frédéric van Leeuw nur einen Tag vor dem Doppelanschlag - und gab gleich eine weitere dringende Fahndung heraus.

Zwischen all den SMS-, Twitter- und WhatsApp-Nachrichten, mit denen Freunde über das eigene Wohlergehen informiert werden, taucht deshalb schon am Dienstag die Frage auf, warum die Regierung nicht sofort nach Salah Abdeslams Festnahme die Terrorwarnstufe erhöht haben. Über Fehler und Verantwortlichkeiten wird in den nächsten Tagen mit Sicherheit noch viel zu reden sein in Belgien, doch nicht jetzt, nicht in einem Augenblick, da in den Spitälern der Stadt noch viele der mindestens 130 Verletzten um ihr Leben ringen.

Eine Frau aus dem Stadtteil Woluwé-St.Lambert humpelt nach Hause. Sie ist Übersetzerin in den EU-Institutionen und ist mit dem schon zuvor verstauchten Knöchel den ganzen Weg von der Arbeit zurückgelaufen. Sie steigt immer in Maalbeek aus, nur beginnt ihr Werktag schon um acht Uhr, worüber sie sich nun einmal freuen kann. Den ganzen Tag haben sie im Büro versucht abzugleichen, wer von den noch Fehlenden frei hat, sich bereits von einem sicheren Ort gemeldet hat - oder tatsächlich vermisst wird. Die Suche gestaltet sich schwierig, weil das Brüsseler Mobilfunknetz immer wieder zusammenbricht.

Gesucht wird mit Hochdruck auch nach weiteren Attentätern und den Hintermännern. Neue Razzien werden vermeldet, bis in den Abend hinein heulen in der Stadt die Sirenen.

An Soldaten in der Stadt, die im Laufe des Tages in zusätzlichen Scharen die öffentlichen Gebäude bewachen, sind die Bruxellois gewöhnt. Sie gehören seit dem Anschlag auf das Jüdische Museum im Mai 2014 zum Stadtbild. Noch einmal massiv verstärkt wurde die Präsenz, als die Verbindung der Paris-Attentäter nach Molenbeek ans Licht kamen und die Suche nach Salah im November quasi in einer Vollsperrung der Stadt mündete. Nun herrscht wieder die höchste Terrorwarnstufe.

Das öffentliche Leben in Brüssel kommt dadurch fast vollständig zum Erliegen. Viele Eltern holen ihre Kinder vorzeitig von der Schule ab. An der Deutschen Schule im Vorort Wezembeek sind am Ende des Unterrichtstages nur etwa ein Viertel der Schüler überhaupt noch in der Klasse. Wohl wird in den Stadtvierteln außerhalb des Zentrums eingekauft, doch folgen die meisten Bewohner dem Aufruf ihres Ministerpräsidenten Charles Michel, ihren gegenwärtigen Aufenthaltsort nicht zu verlassen: "Das ist", sagt der Premier, "ein schwarzer Tag für Belgien."

Die Karwochen-Gottesdienste in der großen Brüsseler Kathedrale werden genauso abgesagt wie politische Besuche wie der der deutschen Staatsministerin Aydan Ozoguz. Ausschusssitzungen im Europaparlament werden nach wenigen Minuten abgebrochen. "Wir stehen alle ein Stück weit unter Schock", sagt der Rottweiler CDU-Abgeordnete Andreas Schwab, der mit seinen Mitarbeitern auf ein Zeichen der Sicherheitskräfte wartet, das Gebäude wieder verlassen zu können. Am Morgen, als er zu Fuß zur Arbeit gegangen ist, hat er sich noch keine großen Sorgen gemacht, obwohl er da bereits von den Airport-Attentaten gehört hat. Der Flughafen schien weit weg. Jetzt ist der Terror ganz nah.

Andrea, so heißt die Nachbarin, fühlt ganz ähnlich. "Die vermeintliche Erleichterung nach der Verhaftung von Salah Abdeslam war mir schon nicht ganz geheuer", erzählt sie, "aber dass nun schon so kurz danach etwas passiert ist..." Sie unterbricht den Satz: "An meiner U-Bahn-Station." Noch eine Pause: "Diese Schweine!"

Am späten Nachmittag bekennt sich die Terrormiliz des sogenannten Islamischen Staates zu den Anschlägen, fast gleichzeitig heben die Behörden die Ausgangssperre auf. Verdaut oder verarbeitet ist damit gar nichts. Eine dreitägige Staatstrauer, parallel dazu angekündigt, soll dabei helfen. Nun wird auch die große Fahne am Parc Cinquentenaire herabgelassen.

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