Verfassungsrichter sprechen von Willkür bei Hartz IV

Die klagenden Hartz-IV-Empfänger im Saal gratulierten sich, die beklagten Staatsvertreter, Minister der Bundesregierung und höchste Vertreter der Länder, machten lange Gesichter.

Berlin. (wk) Hintergründe und Konsequenzen des gestrigen Karlsruher Verfassungsgerichtsurteils zu den Regelsätzen der Grundsicherung beleuchtet TV-Korrespondent Werner Kolhoff.

Was ist der Kern des Verfassungsgerichtsurteils?

Zentrale Aussage ist, dass die Grundlage für die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze nicht der Verfassung entspricht, weil die Menschenwürde nach Artikel 1 und das Sozialstaatsgebot nach Artikel 20 verletzt seien. Im Grunde wirft das Gericht dem Gesetzgeber Willkür bei der Festsetzung der Regelsätze vor, und zwar besonders bei den Kindern. Eine Neuregelung muss zu Beginn des kommenden Jahres erfolgen. Transparent, sachgerecht und realitätsgerecht müsse die Berechnungsmethode sein. Jeder Mensch habe außer der Sicherung seiner physischen Existenz auch Anspruch auf ein "Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen Leben", so die Karlsruher Richter.

Was bemängelt das Gericht im Detail?

Bei den Sätzen für Kinder kritisiert es, dass die Höhe derzeit einfach pauschal von den Sätzen für Erwachsene abgeleitet wird: 60 Prozent der für die Erwachsenen gezahlten 359 Euro für Kinder bis fünf Jahre, 70 Prozent für Sechs- bis 13-Jährige und 80 Prozent für bis zu 18-Jährige. Das seien "freihändige Schätzungen ins Blaue hinein", urteilten die Richter in seltener Schroffheit. Sie bemängelten, dass der kinderspezifische Bedarf nicht ermittelt werde. Anders bei den Erwachsenen. Deren Regelsätzen liegt ein fiktiver Warenkorb zugrunde, was "ein grundsätzlich geeignetes Verfahren" sei.

Doch sei der Gesetzgeber davon in den vergangenen Jahren bei der Anpassung an Preissteigerungen selbst abgewichen und habe plötzlich die Rentenentwicklung zum Maßstab genommen. Außerdem fehle die Möglichkeit, "atypische" Bedarfe geltend zu machen. Eine Härtefallregelung sei nötig.

Werden jetzt die Hartz-IV-Sätze steigen?

Bei den Erwachsenen kaum, denn das Gericht hat selbst formuliert, dass hier die Grundsicherung "nicht evident unzureichend" sei. Allerdings dürften künftige Erhöhungen schneller und stärker erfolgen, dann nämlich, wenn die realen Preissteigerungen zur Grundlage gemacht werden. Wäre das schon bisher geschehen, lägen die Sätze nach Berechnungen der Wohlfahrtsverbände heute bereits bei 420 Euro. Zudem wird es bei den Erwachsenen künftig Geld für Sonderbedarfe und Notsituationen geben. Derartiges kann in Einzelfällen, so das Gericht, auch schon sofort geltend gemacht werden.

Bei den Kindern dürften kräftigere Anhebungen der Regelsätze erfolgen, wenn künftig die realen Lebenshaltungskosten zugrunde gelegt werden. Gerade in der Wachstumsphase kommen die Kinder mit dem vorgesehen Geld etwa für Kleidung nicht aus. Außerdem muss mehr für Schul- und Freizeitaktivitäten angesetzt werden.

Wie viel werden die Korrekturen kosten?

Das hängt davon ab, wie umfangreich sie ausfallen. Die Grünen rechnen ebenso wie die Wohlfahrtsverbände mit Mehrkosten von etwa zehn Milliarden Euro pro Jahr für den Bund, der derzeit 40 Milliarden Euro für die 6,7 Millionen Hartz-IV-Empfänger ausgibt. Die FDP spricht von wesentlich niedrigeren Zusatzausgaben, ohne allerdings Zahlen zu nennen. Unklar ist auch, wie viele Menschen ab nächstes Jahr als Aufstocker zusätzlich Hartz IV beanspruchen können, weil ihr Einkommen unterhalb der dann neuen Regelsätze liegt.

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