Vergessen, erinnern, speichern - Gedächtnis im Dreiklang

Trier · Das Vergessen wird häufig gleichgesetzt mit Alzheimer und Altersdemenz. Zu Unrecht, sagen die Wissenschaftler, die heute beim ersten Wissenschaftsforum der Universität Trier diskutieren. Sie sind sich einig: Vergessen gehört zum Leben wie das Ausatmen.

 Es scheint wie im Jahresverlauf der Natur: Mit dem Alter nimmt Vergesslichkeit zu. Doch nicht immer ist Vergessen eine Krankheit. Grafik: iStock /wildpixel

Es scheint wie im Jahresverlauf der Natur: Mit dem Alter nimmt Vergesslichkeit zu. Doch nicht immer ist Vergessen eine Krankheit. Grafik: iStock /wildpixel

Foto: (g_pol3 )

Trier. Viele Schriftsteller und Philosophen haben sich dem Thema gewidmet. "Erinnerungen verschönern das Leben, aber das Vergessen allein macht es erträglich", war Honoré de Balzac überzeugt. Der argentinische Schriftstelle Jorge Luis Borges nannte große Bibliotheken Vergessensanstalten. In seiner Erzählung "Das unerbittliche Gedächtnis" beschreibt er einen Menschen, der nicht in der Lage ist, etwas zu vergessen. Die Unfähigkeit, Gedanken abfließen zu lassen, um neue Erfahrungen speichern zu können, macht dieser literarischen Figur das Leben zu Hölle.Angst vor dem Vergessen: Für den Soziologieprofessor Alois Hahn gehören Vergessen und Erinnern untrennbar zusammen. "Das ist wie kognitives Ausatmen. Vor allem das moderne Leben mit seiner großen Komplexität macht die Fähigkeit zum Vergessen wichtiger denn je." Für die Gesellschaft ist es dennoch die Angst vor einer Demenzerkrankung, die bei diesem Thema dominiert und es auf den medizinischen Aspekt reduziert. Die Zahl von jährlich 300 000 neuen Demenzerkrankungen wie Alzheimer in Deutschland sind vor allem deshalb alarmierend, weil die Summe der Sterbefälle unter den bereits Erkrankten in dieser Zeit deutlich geringer ist. Obwohl die individuelle Gefahr einer Erkrankung im Vergleich zu früher deutlich gesunken ist, steigt deshalb die Gesamtzahl der Betroffenen. Bis zum Jahr 2050 rechnen Experten mit einer Verdopplung auf bundesweit drei Millionen Demenzpatienten. "Für die Gesellschaft entstehen dadurch deutlich höhere Kosten", sagt der Neurologe Matthias Maschke. Der Chefarzt im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder und Leiter des Demenzzentrums Trier ermutigt die Menschen dazu, gesund und aktiv zu leben. "Zufriedenstellende Medikamente gegen Altersdemenz gibt es nicht. Aber jeder kann selbst viel dazu beitragen, sein Gedächtnis zu verbessern und die Gefahr einer Altersdemenz zu reduzieren."Barmherziges Vergessen: Doch es ist nicht nur die Gefahr der von Borges beschriebenen Sinnesüberflutung, die das Vergessen wertvoll macht. Der Blick nach Syrien lässt schaudern. Moraltheologe Johannes Brantl spricht von einem barmherzigen Vergessen, wenn die Opfer von Krieg, Terror, Vergewaltigung oder anderen traumatischen Erlebnissen zunächst bewusst ihre schlimmen Erlebnisse vergessen. "Das gehört zum Überlebensmechanismus des Menschen. Allerdings funktioniert die Bewältigung der Vergangenheit nicht ohne eine Erinnerung an das, was passiert ist, sobald das möglich ist." Der individuell richtige Therapeut sei dann wichtig. Vergessen ist Macht: Wissen ist Macht. "Zu bestimmen, was vergessen werden darf, ist auch Macht", ist Brantl überzeugt. Soziologe Alois Hahn verweist auf die Geschichte. Bereits bei den Römern sei mit der Damnatio memoriae bewusst jede Erinnerung an Personen getilgt worden. Das habe sich in der stalinistischen Zeit wiederholt. "Amnestien sind verordnete Amnesien."Die mit dem Begriff postfaktisch bezeichneten Wahlkampagnen der Brexit-Befürworter oder des zukünftigen amerikanischen Präsidenten Donald Trump definieren aber weder Hahn noch Brantl als eine Form des Vergessens. Die Unfähigkeit, sich an zurückliegende Versprechen und Aussagen zu erinnern, sei eher Lüge und der Ausdruck der charakterliche Mängel. Doch nach Ansicht der Professoren, die heute ab 10 Uhr beim ersten Wissenschaftsforum der Universität Trier über "Das rechte und das unrechte Vergessen" referieren und diskutieren (siehe Extra), ist das Vergessen nicht nur eine Entscheidung des Individuums. "In jeder Gesellschaft ist das Vergessen institutionalisiert", ist Alois Hahn überzeugt. Pädagogen und Bildungspolitiker nennt er Strategen der Vergessenskultur. Demgegenüber seien Familie, Kirche und Staat jene Institutionen, die auch für das Erinnern große Bedeutung hätten. "Vielleicht war auch nach dem Dritten Reich das Vergessen für einen Neuanfang notwendig", gibt Theologe Johannes Brantl zu Bedenken. "Der Zwang zur Erinnerung war aber auch dafür unverzichtbar, um mit der Vergangenheit umgehen zu können."Extra

"Das rechte und das unrechte Vergessen" - so lautet das Thema beim ersten Wissenschaftsforum Trier. Dazu lädt die Wissenschaftsallianz Trier am heutigen Freitag, 10 bis 14 Uhr, an die Universität ein (ehemalige Kapelle auf Campus II). Mediziner, Soziologen, Psychologen und Theologen werden sich mit Facetten des Themas beschäftigen. r.n.

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