Vergessen ist der falsche Weg

TRIER. Wie muss eine Frau sich fühlen, die einen Mann geheiratet hat, der unter Alkoholeinfluss gewalttätig wird? Inge B. (Name von der Redaktion geändert) hat es erlebt. Mittlerweile hat der Täter eine Entziehungskur hinter sich. Eine Strafe wurde nicht ausgesprochen. Aber die Frau hat bewältigt, was sie erlebte, und ihrem Leben eine neue Richtung gegeben.

"Würde er jetzt vor mir stehen, ich hätte ein bisschen Angst." So reden Opfer nur, wenn sie Abstand gewonnen haben. Inge B. hat nicht vergessen, was ihr damals der Ehemann antat. Aber sie hat es bewältigt, hat gelernt, mit Erlebnissen, die jeden Menschen traumatisch berühren müssen, fertig zu werden. Drei Monate stationärer Behandlung waren dazu nötig, um alles aufzuarbeiten. "Aufarbeiten", sagt Inge, "nicht wegschieben und verdrängen."Viel Leid hinter nüchternen Sätzen

Es fällt auch dem eher distanzierten Beobachter schwer, angesichts der Gerichtsakten die Fassung zu bewahren. Da wirft jemand mit einem Kaffeebecher und bricht seiner Frau die Finger, fügt ihr mit glühenden Zigaretten Verletzungen zu, verbrennt ihre Haut mit dem Feuerzeug, drückt einen heißen Gegenstand gegen offene Wunden. "Die Wunden heilten nicht", und "Frau B. erlitt dadurch starke Schmerzen", vermeldet die Gerichtsakte sachlich-korrekt. Und weiter: "Die Zeugin, die wusste, welche Schmerzen der beschuldigte Mann ihr zufügen würde, hatte sich zuvor ein Handtuch in den Mund gesteckt, damit die Tochter im Nebenzimmer ihre Schmerzensschreie nicht hören konnte." Wie viel unendliches Leid steckt hinter diesen protokollarisch-nüchternen Sätzen! Vom 30. April 2002 bis zum 26. September 2003 dauert das Martyrium. Anfangs versuchte die Frau noch, die Taten zu vertuschen. Sie habe sich die Fingerbrüche bei einem Sturz zugezogen, erklärte sie vor den Ärzten. Aber schließlich drohte der Täter ernsthaft mit Mord. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Inge B. wendet sich an die Polizei, und die nimmt den Täter in Gewahrsam. Nach einem quälenden Prozess über zwei Instanzen wird der Täter schuldig gesprochen. Wegen gefährlicher Körperverletzung in elf Fällen, der vorsätzlichen Körperverletzung, der Bedrohung in drei Fällen sowie der Nötigung und der versuchten Nötigung. Eine Verurteilung ist das, aber keine Strafe. Eine Große Strafkammer weist den Täter in eine Entziehungsanstalt ein. Auf sieben eng beschriebenen DIN-A-4-Seiten befassen sich die Richter ordentlich und pflichtgemäß mit der Persönlichkeit und den Empfindungen des Täters. Nach den Empfindungen des Opfers hat offenbar niemand gefragt. Jedenfalls steht darüber in den Gerichtsakten kein einziger Satz. Mittlerweile ist der Täter wieder frei. Aber Inge B. hat gelernt, hat sich entwickelt, hat auch Halt gefunden - bei den Eltern, in der Familie, beim neuen Lebenspartner. Mittlerweile studiert sie und wird ihre bewältigten Erfahrungen in ihre künftige Berufs-Laufbahn einbringen können. "Ich habe aus meinen Fehlern gelernt", sagt sie. Ihre Fehler? Einfach zu lange Illusionen gemacht, auf Veränderung gehofft, auf ein Wunder, das ihr die Entscheidung abnimmt. Dass sie im September 2003 die Polizei rief, war der entscheidende Schritt in ein neues Leben. "Das hat mir Selbstvertrauen gegeben. Gut, dass ich damals diesen Schritt gegangen bin."

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