"Verhaftet die üblichen Verdächtigen!"

Der langjährige Leiter des Moskauer Focus-Büros, Boris Reitschuster, glaubt, dass der russische Präsident Putin indirekt für den Mord an Regimekritiker Boris Nemzow mitverantwortlich ist. Putin habe in Russland ein Klima geschaffen, in dem er keine Befehle mehr geben müsse, sagte Reitschuster im Gespräch mit TV-Redakteur Rolf Seydewitz.

In Russland wurden im Zusammenhang mit dem Fall Nemzow erste Verdächtige (aus dem Kaukasus) verhaftet. Ihr Eindruck: Show oder Resultat seriöser Ermittlungen?
Reitschuster: Mein erster Eindruck war ähnlich wie im Film Casablanca, wo es heißt: Verhaftet die üblichen Verdächtigen! Wenn man länger in Russland lebt, eignet man sich einen Galgenhumor an. Kurz nach der Tat haben Kollegen von mir und auch ich schon gesagt, in Kürze werden kaukasische Verdächtige präsentiert werden. Genau das ist passiert. Das war nach allen großen Morden so, dass man eine kaukasische Spur gefunden hat - und Täter auf der untersten Ebene, aber keine Hinweise auf die Auftraggeber.
Was glauben Sie, wer dahinter steckt?
Reitschuster: Ich würde die Worte von Boris Nemzow wiederholen, der 2012 gesagt hat: Wenn einer von uns umgebracht wird, war es Putin, der den Mord organisiert hat. Das ist natürlich kein Beweis, aber der russische Geheimdienst KGB weiß, wie man Auftragsmorde ausführt. Ich glaube nicht, dass Putin selbst den Befehl zu dem Mord an Nemzow gegeben hat, aber das muss er auch gar nicht. Er hat ein Klima geschaffen, in dem man keine Befehle mehr geben muss.
Was war Ihr erster Gedanke, als Sie von dem Attentat auf den Putinkritiker gehört haben?
Reitschuster: Mein erster Gedanke war: Jetzt haben sie ihn doch umgebracht. Ich war befreundet mit Nemzow. Bei einem Treffen hat er mir gesagt, dass er eine große Dummheit gemacht habe: Er habe Putin in einem Interview mit einem ganz schlimmen Schimpfwort attackiert. Dafür werden sie mich umbringen, hat er mir gesagt, und ich habe geantwortet: Nein, Boris, du bist zu bekannt, das werden sie sich nicht trauen. Ich glaube übrigens, dass wir nie erfahren werden, wer wirklich hinter dem Mord steckt. Dafür wird es am Ende nur weitreichende Indizien geben.
Sie haben vor drei Jahren Russland verlassen, weil sie bedroht wurden. Wen vermuten Sie hinter diesen Bedrohungen?
Reitschuster: Das ist die dortige Atmosphäre, in der jede Art von Andersdenken attackiert und mit Hass belegt wird. Auch hier in Deutschland bekomme ich noch fast täglich Hassmails und verklausulierte Morddrohungen. Der Kreml hat Organisationen geschaffen, die sich hauptberuflich mit der Verbreitung von Hass und Angst beschäftigen.
Inwiefern hat Sie die Entwicklung auf der Krim und in der Ostukraine überrascht?
Reitschuster: Ich habe schon vor neun Jahren geschrieben, dass Putin die außenpolitische Aggression braucht, um innenpolitisch zu stabilisieren. Es ist sein Hauptmachtinstrument, und ich habe damals schon gewarnt, dass Putin immer weitergehen wird. Hätte man mich seinerzeit konkret nach der Krim gefragt, hätte ich geantwortet: Ich hoffe nicht. Ich hätte nicht gedacht, dass der Einmarsch so rasch passiert.
Der Waffenstillstand zwischen den Separatisten und der ukrainischen Armee ist fragil, aber er scheint zu halten. Wie groß ist Ihrer Meinung nach die Wahrscheinlichkeit für einen dauerhaften Frieden?
Reitschuster: Ich halte die Wahrscheinlichkeit für sehr gering. Putin ist ein Taktiker. Nach dem Mord an Nemzow ist es für ihn vorteilhaft, wenn etwas Ruhe einkehrt. Aber wie die Erfahrung der Vergangenheit zeigt, glaube ich nicht an eine dauerhafte Befriedung. Putins großes Ziel ist, dass die Ukraine sich nicht Richtung Westen orientiert und er in Kiew eine Regierung hat, die Moskau nahesteht. So lange er das nicht erreicht hat, wird Putin keine Ruhe geben.
Wie sollte sich der Westen verhalten?
Reitschuster: Der Westen hat sich lange falsch verhalten und hätte viel eher mit Sanktionen reagieren müssen. Indem von vornher-ein Waffenlieferungen ausgeschlossen worden sind, hat sich der Westen selbst kastriert. In letzter Zeit habe ich den Eindruck, dass die Naivität nachgelassen hat und insbesondere auch Deutschland klüger geworden ist. Putin ist im Hinterhof aufgewachsen, er hat gesagt, den Schwachen schlägt man, nur der Starke wird geachtet. Das gilt auch für uns: Wir müssen die Dinge beim Namen nennen. In der Ostukraine gibt es keine Krise, sondern Krieg. Und dort sind keine Separatisten am Werk, sondern von Moskau gesteuerte Truppen.
Was hat Putin vor?
Reitschuster: Er ist ein großer Taktiker und ein schlechter Stratege. Seinen langfristigen Plan kennt er womöglich selbst noch nicht. Oberste Prämisse ist der Machterhalt. Der augenblickliche Hurra-Patriotismus wird Putins Popularitätswerte nicht ewig stützen. Seine Beliebtheit wird schon wegen der Wirtschaftsprobleme sinken. Dann wird er ein neues außenpolitisches Abenteuer angehen. Ich schlimmsten Fall könnte das eine Aktion im Baltikum sein.
Was kommt nach Putin?
Reitschuster: Viele Oppositionelle in Russland glauben, dass Putin versuchen wird, sich bis zu seinem Lebensende an die Macht zu klammern. Nach ihm wird wahrscheinlich einer der rationalen Leute im Kreml an die Macht kommen, denen Putins Politik zu radikal ist, die eine pragmatische Beziehung zum Westen haben und ungestört Geschäfte machen wollen. Leider nicht ganz auszuschließen ist aber, dass sich jemand aus dem nationalistischen Lager durchsetzen könnte. Das wäre für uns die schlimmste Variante. seyExtra

Der in Augsburg geborene Journalist Boris Reitschuster arbeitete jahrelang für das Magazin Focus. Vorher machte er eine Ausbildung zum Dolmetscher und arbeitete unter anderem für Zeitungen und Presseagenturen. Der 43-Jährige veröffentlichte mehrere Bücher über Russland. Zuletzt erschien Reitschusters Buch "Putins Demokratur: ein Machtmensch und sein System" (Econ Verlag). Derzeit arbeitet der in Berlin lebende Reitschuster als freiberuflicher Autor und Journalist. seyExtra

Der Journalist und Russlandkenner Boris Reitschuster spricht am Freitag, 13. März, in Prüm über "Wladimir Putin - Ein Machtmensch und sein System". Die vom Geschichtsverein Prümer Land organisierte Veranstaltung beginnt um 19.30 Uhr in der Kapelle des Konvikts; Eintritt: 6 bis 10 Euro. sey

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