Vision und Realität

BERLIN. (hlo) Nicht alles anders, aber vieles besser wollte die rot-grüne Bundesregierung bei ihrem Amtsantritt 1998 machen. Gut vier Jahre nach diesem Regierungswechsel zieht ein Autorenteam um Hanns W. Maull, Professor für Internationale Beziehungen und Außenpolitik an der Universität Trier, eine zeitgeschichtliche Bilanz.

In seinem einleitenden Editorial "Deutschland auf Abwegen?" kommt Maull zu dem vernichtenden Ergebnis: "Die rot-grüne Außenpolitik hat die Außen- und Sicherheitspolitik und insbesondere die Beziehungen zu ihren wichtigsten Partnern, Frankreich und den USA, vernachlässigt und dabei Deutschland nicht unerheblichen Schaden zugefügt." Die einzelnen Beiträge von anderen Wissenschaftlern aus Trier, namhaften Journalisten und Praktikern der Politik decken dieses Pauschalurteil nicht, kommen zu differenzierten Ergebnissen, lassen Revue passieren, was in den letzten viereinhalb Jahren passierte. Ein von rot-grün nicht gewollter Schwerpunkt war die Sicherheitspolitik. Die Verweigerung einer Beteiligung am Irak-Krieg verdrängt die Tatsache, dass die Bundesrepublik - gemessen an der Zahl der eingesetzten Soldaten - nach den USA das zweitgrößte Kontingent stellt. Knapp 10 000 Mann waren zu Beginn dieses Jahres in Südosteuropa, Asien und Afrika an internationalen Einsätzen beteiligt. Martin Wagner spricht in seinem Beitrag von "Normalisierung statt Militarisierung" der deutschen Sicherheitspolitik, und Marco Overhaus untersucht das Spannungsverhältnis zwischen kooperativer Sicherheit und militärischer Interventionsfähigkeit. Ein anderer Schwerpunkt des Sammelbandes ist die rot-grüne Europapolitik. Hier hat ein wirtschaftlich bedingter Paradigmenwechsel stattgefunden: Jahrzehnte lang war die Bundesrepublik bereit gewesen, Nachteile auf der mehr regulativen Ebene wie bei der Agrarfinanzierung hinzunehmen, um auf der konstitutiven Ebene wie bei der Einführung des Binnenmarkts Fortschritte zu erreichen. Außenminister Fischer musste diese deutsche Prioritätensetzung umkehren und die Senkung des deutschen Finanzbeitrages in den Vordergrund stellen. Henning Tewes, der Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Warschau würdigt gerade diese schmerzliche Prioritätensetzung der Regierung Schröder geradezu als heroisch. Entwicklungspolitik und Menschenrechtsfragen, die rot-grüne Südosteuropapolitik und auch das Scheitern der deutschen Nahostpolitik sind andere Themen dieses bemerkenswerten Bandes. Er kommentiert mit den Mitteln der Zeitgeschichte eine bewegte Periode, die nicht etwa abgeschlossen ist. Der besprochene Band verdeutlicht das Spannungsverhältnis zwischen charismatischer Vision der internationalen Beziehungen und professioneller Diplomatie, zeigt die Wechselbeziehungen zwischen europäischer Innen- und multilateraler Außenpolitik auf und kommt für die rot-grüne Bundesregierung zu dem Ergebnis, dass sie vieles genauso, manches besser und verschiedenes handwerklich schlecht gemacht hat. Hans Maull/Sebastian Harnisch/Constantin Grund (Hrsg.): Deutschland im Abseits? Rot-grüne Außenpolitik 1998-2003, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2003, 193 Seiten, 29,00 Euro.

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