Vom Eisernen Kreuz und der großen Flucht

TRIER. Harry Leist, 75, ist als Halbwüchsiger im Zweiten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz "ausgezeichnet" worden. Es war eine "Ehrung" ohne das übliche militärische Zeremoniell. Wir das kam, erzählt der Trierer in der TV -Serie "Lebenswege".

Ein Leben in Dokumenten: Harry Leist hat akribisch gesammelt. Foto: Friedemann Vetter

März 1945. Harry Leist ist gerade 15 Jahre alt. Und wie Hunderttausende auf der Flucht vor der russischen Armee. Fast sechs Wochen ist er schon unterwegs, weil russische Artillerie die Straße zu seinem Heimatdorf Gornitz/Pommern beschießt und er nicht mehr zurück kann. Eine bespannte Artillerieeinheit nimmt ihn mit, immer Richtung Westen.

Auf einer Zwischenstation fragt ihn ein junger Leutnant: "Kannst du reiten?" In der Hitlerjugend hatte Leist Schießen und Reiten gelernt. Der Leutnant sagt: "Wir müssen die Pferde bewegen." Sie reiten in ein Waldstück. Und werden von polnischen Partisanen unter Feuer genommen. Der Leutnant fällt getroffen vom Pferd. Er blutet, ist aber bei Bewusstsein. Harry Leist hat es ebenfalls erwischt. Oberschenkeldurchschuss.Einer der Partisanen fragt Harry erstaunt: "Mensch, wo kommst du denn her?" Der Mann hatte als polnischer Zwangsarbeiter auf einem Bauernhof in Gornitz, dem Heimatort von Harry Leist, gearbeitet. Der Bauer war ein Leuteschinder. Harrys Mutter hingegen hatte den Zwangsarbeitern geholfen. Harry hatte sich mit dem Mann sogar angefreundet: "Die Partisanen wollten den Leutnant erschießen, aber weil der mich kannte, ließen sie uns laufen." Harry klettert mit seinem zerschossenen Bein wieder auf das Pferd. Und nimmt den blutenden Leutnant vor sich. Sie reiten zurück. Der Leutnant schenkt Harry sein EK 2 und sagt: "Du hast mir das Leben gerettet."Krieg, Flucht, Wiederaufbau

60 Jahre später. Harry Leist hat diese Begebenheit beinahe vergessen, als er über sich und seine Familie erzählt: "Da kommt so viel zusammen. Wo fängt man an?" Er sortiert seine Erinnerungen. Der schreckliche Krieg. Die Flucht. Kurz vor Stettin sagt der Hauptmann zu ihm: "Harry, wir müssen an die Front. Du musst eine Uniform anziehen, wenn du bei uns bleiben willst." Ein Soldat rät ihm: "Junge, setz' dich auf dein Fahrrad und fahr heim. Mach', dass du weg kommst."In einem Flüchtlingsbüro erhält er einen Freifahrtschein nach Recklinghausen, wo seine Tante wohnte. Im März 1945 kommt Harry Leist in Recklinghausen an: "Meine Tante hatte drei Jungen in meinem Alter. Ihr Mann war in Gefangenschaft in Norwegen. Wie sollte die uns durchbringen?" Harry geht zum Bauern arbeiten: "Es gab zu essen und ein paar Mark Taschengeld."1946. Arbeitslosigkeit überall. Deutschland in Trümmern. Harry und ein Freund beschließen: "Wir gehen in die Fremdenlegion. Im Rekrutierungsbüro wies mich der Offizier ab, weil ich in meinem Ausweis aus meinem Geburtsjahr 1929 das Jahr 1928 gemacht hatte. Der Offizier meinte, ich sei zu jung. Mein Kumpel sagte: Wenn du nicht gehst, gehe ich auch nicht. Wir fuhren nach München, weil wir dachten, dort würden wir leichter Arbeit finden. Wir arbeiteten im Stollenbau am Walchensee. Bei einem Besuch in Berlin bei einer Tante erfuhr ich dann, dass meine Eltern erschossen worden waren."1990 hat Harry Leist mit seinem Sohn Harry und seinem Bruder Joachim seinen Heimatort besucht. Gornitz war nun polnisch und hieß Gornica: "Das Haus stand noch genau so, wie wir es verlassen hatten. In der Ecke des Gartens stand ein Apfelbaum. Da haben wir als Kinder unser Kätzchen beerdigt, das von einem Huhn totgepickt wurde, das seine Küken verteidigen wollte. Dort hatten sie unsere Eltern begraben. Die Russen hatten nicht zugelassen, dass meine Eltern auf dem Friedhof bestattet wurden."Harry Leist zündet sich die vierte Zigarette an: "Das regt mich alles so auf. Da muss ichwas rauchen." Dann erzählt er weiter: "Ich bin dann aus München weg nach Rheinland-Pfalz." Die Franzosen nahmen inzwischen Vertriebene auf. Harry Leist findet zunächst eine Stelle bei einer Metallbaufirma. Die nächste Station: ein Montage-Job in Luxemburg bei der Eisenbahn. 1954 lernt er Sigrid, seine spätere Frau, kennen. Und schließlich findet er eine Anstellung bei der Deutschen Bundesbahn, zunächst als "Bahnunterhaltungsarbeiter".Spät im Leben die Schulbank gedrückt

Er erhält die Chance, noch einmal die Schulbank zu drücken: Er absolviert eine ingenieurähnliche Ausbildung, macht Karriere, wird schließlich "technischer Bundesbahnamtmann". Er baut ein Einfamilienhaus: "Allein, nur ein Maurer half mir." Seinem Arbeitgeber macht er das große Kompliment: "Was ich habe, was ich kann, verdanke ich der Bundesbahn." 1988 wird er pensioniert.Was man wieder aus ihm herausfragen muss, ist dies: Harry Leist hat sich immer schon für andere engagiert und eingesetzt: "Ich bin ein sozial eingestellter Mensch." 20 Jahre lang war er Ortsvorsitzender der Pommerschen Landsmannschaft. 20 Jahre lang war er als SPD-Mitglied und später für die UBM (Unabhängige Bürgervertretung Maximini) im Ortsbeirat von Trier-Zewen. Er war Betreuer am Vormundschaftsgericht, war zehn Jahre lang Ortsvorsitzender der Awo (Arbeiterwohlfahrt), vertrat die Interessen von alten Menschen und war Jugendschöffe am Amtsgericht in Trier. "Das habe ich aber aufgegeben, als ich 70 Jahre alt wurde."Und heute? Harry Leist sagt: "Pensionär ist der beste Job." Er kümmert sich noch ein wenig um seinen Garten. Und beklagt, wenn man ihn nach einem Lebensfazit fragt, die Kälte und Oberflächlichkeit der heutigen Gesellschaft. "Es war früher anders. Im Krieg und danach. Da war Solidarität. Man hat sich geholfen. Und die Familien hielten zusammen. Da haben alte Menschen in den Familien gelebt, egal, ob sie eine Rente hatten oder nicht. Und heute. Da werden sie abgeschoben ins Heim. Keiner hat mehr Zeit für den anderen."

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