Vom Fieber gepackt

Berlin. Nach nur einer Woche WM hat der Fußball die Mächtigen jetzt auch emotional ergriffen. Sie stehen Schlange, um dabei zu sein.

Man braucht sich den Kopf nicht lange zu zerbrechen, ob man Angela Merkel jemals schon so gesehen hat. Hat man nicht. Augen und Mund sind zum Ur-Schrei weit aufgerissen, das Gesicht strahlt vor Euphorie, die Arme fahren befreiend auf und nieder. Und nachdem es sie halb aus dem Sitz gerissen hat, faltet Merkel mit ungläubigem Lachen die Hände und blickt nach links zum versteinert dreinschauenden Fußballfunktionär Theo Zwanziger - eine Bundeskanzlerin und ihr Gefühlsausbruch. Von Millionen an den Bildschirmen verfolgt. Vorfreude auf das "kleine Finale"

So hat man sie noch nie erlebt, die kühle Physikerin der Macht. Und das nur, oder besser gerade weil der Ball beim Spiel der Nationalmannschaft gegen Polen in der 90. Minute zweimal gegen die Latte tickt und partout nicht im Tor landen will. Die Weltmeisterschaft verdeckt vieles - und inzwischen diktiert das runde Leder der Politik sogar das Politikmachen. Weil's so schön war, geht es kommenden Dienstag beim letzten Spiel der Klinsmann-Truppe wieder ins Stadion: Angela Merkel und der eher regungslos zuschauende Bundespräsident Horst Köhler werden beim "kleinen Finale" gegen Ecuador in Berlin erneut auf der Ehrentribüne sitzen. Dazu noch einige Minister und sonstige Spitzenpolitiker, vor allem die Grünen gehen gerne hin. Die Nationalelf bewegt, angeblich häufen sich sogar Bitten der politischen Großköpfe an Fifa- und OK-Funktionäre, bei den Spielen der Deutschen irgendwie noch dabei sein zu dürfen. Die Welle der Begeisterung, die das Land erfasst hat, reißt mit. Auch die oft spröde wirkenden Politiker. Und die WM übertüncht vieles, was gerade Merkel nur recht sein kann. Denn sie erspart der Kanzlerin derzeit einige unliebsame Debatten: So wächst etwa der Widerstand der Unions-Ministerpräsidenten gegen die schwarz-rote Politik in Berlin, der Streit um das Antidiskriminierungsgesetz ist nur ein Beispiel dafür. Auch innerparteilich rumort es gegen Merkels vorsichtigen Umgang mit dem Koalitionspartner SPD. Bis zum Sommer sollen die Föderalismus-, die Gesundheits- sowie die Unternehmenssteuerreform unter Dach und Fach gebracht werden, wofür Merkel steht, was ihre Handschrift ist, keiner weiß es so genau. Aber noch ist Fußball-WM, man genießt und schweigt, oder Kritik wird einfach überhört. Das Regierungsviertel ist fest in der Hand der Fans, der schwarz-rot-goldenen Fahnen und der Sponsoren. Dem können sich auch die Volksvertreter nicht entziehen. Wenn in den kommenden zwei Wochen der Bundestag zu seinen Sitzungen zusammenkommt, werden die Abgeordneten den Belagerungszustand hautnah erleben. Der Ball regiert, das Brandenburger Tor zum Beispiel ist kaum noch zu erkennen, südlich davon beginnt die Fanmeile. Auf 2,5 Kilometern und vor acht Großbildleinwänden jubeln und feiern die Fans, jeden Tag strömen Zehntausende durch das Regierungsviertel dorthin. Vor dem Reichstag, auf dem heiligen Rasen des Platzes der Republik, auf dem ansonsten noch nicht einmal Fußball spielen erlaubt ist, ragt zudem der Nachbau des Olympiastadions empor. Politik ist im Regierungsviertel zur Nebensache degradiert, und manchem Parlamentarier graut es schon vor den Arbeitsbedingungen dank der fußballerischen "Dauerblockade", wie einer sagt. Doch die Wahrheit ist auch: Der Bundestag ist ebenso vom WM-Fieber gepackt worden. Trotz arbeitsintensiver Haushaltswoche ist am kommenden Dienstag um spätestens 15.30 Uhr Debattenschluss im Parlament, damit die Abgeordneten das Spiel gegen Ecuador verfolgen können. Die SPD-Fraktion wird Großbildschirme in ihrem Fraktionssaal aufstellen. Die Union hat in der Arena vor dem Reichstag 800 Plätze reservieren lassen, damit alle 226 Fraktionsmitglieder und ihre Mitarbeiter das Gruppenfinale live verfolgen können. Man guckt also getrennt - irgendwo muss die Koalitionsliebe ja ihre Grenzen haben...

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