Von der Reform in den Kollaps?

BERLIN. Die Gesundheitsreform wirkt nun schon seit fast zwei Jahren. Mit einer spürbaren Beitragssenkung werden die Versicherten allerdings kaum mehr rechnen können. Im Gegenteil: Die Kassenbeiträge drohen zu explodieren.

Der offiziell ausgewiesene Durchschnittssatz der gesetzlichen Krankenkassen ging zwar von 14,3 auf 13,26 Prozent zurück. Hinzu kommt jedoch ein Sonderbeitrag von 0,9 Prozent, den die Arbeitnehmer seit Anfang Juli ohne Mitfinanzierung des Arbeitgebers schultern müssen. Nach Erkenntnissen des Kieler Instituts für Gesundheits-System-Forschung (IGSF) wird sich die Lage noch dramatisch verschärfen. Langfristig sei mit einer Verdoppelung der Beiträge zu rechnen.Bei seiner alarmierenden Prognose stützt sich IGSF-Chef Fritz Beske auf demographische Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden und auf die wachsende Bedeutung des medizinischen Fortschritts. Bei einer durch neue Arzneien oder Heilverfahren ausgelösten Ausgabensteigerung von jährlich einem Prozent würde sich der Beitragssatz im Jahr 2050 auf etwa 28 Prozent erhöhen. Zusätzliche Kosten von jährlich zwei Prozent bedeuteten sogar eine Verdreifachung des heutigen Beitragssatzes. Zwar schrumpft die Bevölkerung in diesem Zeitraum voraussichtlich um etwa zwölf Millionen auf unter 70 Millionen. Aber die wachsende Zahl der Älteren gegenüber den Jüngeren führt dazu, dass der Beitragssatz trotz relativ stabiler Gesamtausgaben der Krankenkassen steigt. Die Mehrbelastung käme in erster Linie auf die Generation der Arbeitnehmer zu. "Die Politik ist aufgefordert, jede Schönfärberei der Situation aufzugeben und die harte Realität anzuerkennen", sagte Beske. Nach seiner Ansicht müssen dabei auch fiktive Finanzierungsdefizite berücksichtigt werden. So gaben die Krankenkassen etwa für Früherkennungsuntersuchungen im Vorjahr 520 Millionen Euro aus. Eine Krebsvorsorge nahmen aber nur knapp 50 Prozent der dazu berechtigten Frauen in Anspruch. In anderen Bereichen liegt die Teilnehmerzahl noch niedriger. Würden Früherkennungsuntersuchungen zu 100 Prozent in Anspruch genommen, kämen auf die Kassen Mehrausgaben von rund einer Milliarde Euro zu. Ein ähnliches Bild zeige sich bei Schutzimpfungen, Diabetes sowie der Versorgung mit Hörgeräten. Die Fördergemeinschaft Gutes Hören schätzt die Anzahl der Schwerhörigen in Deutschland auf etwa 14 Millionen. Aber nur drei Millionen besitzen ein Hörgerät. Der Kassenzuschuss für ein Hörgerät liegt bei durchschnittlich 450 Euro. Eine spürbare Erhöhung des Versorgungsgrads hätte für die Assekuranzen Mehrausgaben in Milliardenhöhe zur Folge.

Der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Hans Jürgen Ahrens, hält von den düsteren Prognosen wenig. Um den medizinischen Fortschritt bezahlbar zu halten, müsse viel stärker geprüft werden, welche medizinisch überholten Angebote aus dem Leistungskatalog der Kassen entfallen könnten. Darüber hinaus gibt Ahrens zu bedenken, dass eine bessere medizinische Versorgung etwa für Diabetiker im Gegenzug zu Einsparungen führt, weil im konkreten Fall jährlich rund 25 000 Fußamputationen vermieden werden könnten. So sieht Ahrens in der IGSF-Studie auch ein "Alarmsignal für die Politik, effizienzsteigernde Reformen nicht auf die lange Bank zu schieben".

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