Von erfundenen Krankheiten und unnötigen Pillen

Trier · Die Pharmaindustrie beeinflusst die Behandlungen vieler Ärzte. Das behauptet der Pirmasenser Hausarzt Stefan Sachtleben. Er ist Anhänger der sogenannten evidenzbasierten Medizin (siehe Stichwort) und steht den Versprechungen der Pillenhersteller kritisch gegenüber.

Trier. Seit 20 Jahren hat Stefan Sachtleben keinen Pharmavertreter mehr in seiner Praxis empfangen. Er vertraut deren Versprechungen nicht. Es gebe zu viele Medikamente, die nicht wirklich innovativ seien, sondern nur einfach neu auf den Markt gebracht würden, ohne dass sie besser geworden seien, sagt der Hausarzt aus dem pfälzischen Pirmasens. Der 54-Jährige gehört dem vor elf Jahren gegründeten Netzwerk Evidenzbasierte Medizin an. Die rund 830 darin zusammengeschlossenen Mediziner stehen den Informationen der Pharmaindustrie kritisch gegenüber. Sie wollen ihre Patienten vor schlecht erprobten Heilmethoden schützen, sie hinterfragen die Arzneimittelforschung und den von den Herstellern oft wortreich angepriesenen Nutzen von Medikamenten.
Es komme auch schon vor, sagt Sachtleben, dass er seinen Patienten, die im Krankenhaus oder bei anderen Ärzten waren, rate, die dort verordneten Medikamente nicht zu nehmen, weil sie nicht ausreichend oder nur einseitig von der Pharmaindustrie erforscht worden seien. Sachtleben ist ein klassischer Schulmediziner, nicht unbedingt ein Anhänger alternativer Medizin, eher einer sanften Schulmedizin. Trotzdem sagt er: "Nicht jedes verordnete Medikament ist wirklich notwendig."
Sachtleben, der Vorstand im rheinland-pfälzischen Hausärzteverband ist, fordert einen kritischeren Umgang seiner Kollegen mit den Informationen der Pharmaindustrie. Die Pillenhersteller versuchten mit gezielten Kampagnen, den Wissensstand der Ärzte zu manipulieren. Das beginne schon an den Universitäten. Junge Ärzte, die habilitieren wollten, brauchten ein Forschungsprojekt und Geld. Zumeist käme beides von der Pharmaindustrie. Damit, so Sachtleben, verdankten viele der zukünftigen Professoren ihre akademische Karriere der Pharmaindustrie, die im Gegenzug diese enge Verbindung ein Akademikerleben lang zu pflegen wisse. Es gehe dabei nicht nur um luxuriöse Fortbildungsveranstaltungen an teuren Urlaubsorten, sondern vor allem um die systematische Kontrolle wissenschaftlicher Ergebnisse und deren Veröffentlichung auf Kongressen und in wissenschaftlichen Zeitschriften.
Diese nicht mehr unabhängigen Professoren gäben ihr durch die Industrie gesponsertes und erworbenes Wissen dann an ihre Studenten weiter, sagt der Hausarzt. Da dürfe man sich nicht wundern, dass viele Mediziner, vor allem in Kliniken, unkritisch gegenüber den Marketingmethoden der Pharmaindustrie seien.
Die Anhänger der evidenzbasierten Medizin setzen sich dagegen zur Wehr. Die Arzneimittelhersteller erfänden Krankheiten, sagt Sachtleben; sie machten aus gesunden Menschen vermeintlich kranke, die nur durch die neuesten Produkte der Unternehmen angeblich wieder geheilt werden.
Der Hausarzt hält auch viele Untersuchungen für überflüssig; nicht jede bringe wissenschaftlich fundierte Ergebnisse, manch eine werde ohne medizinische Notwendigkeit vorgenommen. Den Grund dafür sieht er in dem Honorarsystem der Ärzte. Um seine Praxis wirtschaftlich betreiben zu können, müsse ein deutscher Arzt viel untersuchen, sonst erreiche er kein auskömmliches Honorar.
Das sei aber ein völlig falscher Anreiz. Denn die Zunahme der Untersuchungen führe auch dazu, dass bei vielen Patienten fälschlicherweise Krankheiten diagnostiziert würden, obwohl sie gesund seien. Je seltener eine Krankheit sei, so Sachtleben, desto größer sei die Gefahr dieser sogenannten falsch-positiven Diagnosen.
Aber nicht nur das Gesundheitssystem ist laut Sachtleben schuld an dieser Entwicklung. Zumeist verlangten die Patienten auch nach bestimmten Untersuchungen. Eine Beobachtung, die auch der Trierer Orthopäde Peter Krapf bestätigt: Häufig forderten Patienten Kernspinuntersuchungen, ohne dass sie vom Krankheitsbild überhaupt erforderlich seien. Sachtleben bringt es auf den einfachen Nenner: "Wir leben in einer Gesellschaft, die sich gerne untersuchen lässt." Einer Gesellschaft, die den Heilsversprechungen der Pharmaindustrie genauso unterliege wie viele Mediziner. Evidenzbasierte Medizin (EBM) ist eine noch vergleichsweise jüngere Entwicklung in der Medizin. Sie fordert, medizinische Behandlungen auf der Grundlage von wissenschaftlich fundiert nachgewiesener Wirksamkeit vorzunehmen. EBM beruft sich auf den jeweils aktuellen Stand klinischer Studien und medizinischer Veröffentlichungen. Das kann auch dazu führen, dass Ärzte auf eine normalerweise empfohlene Therapie verzichten, wenn sie nicht wissenschaftlich fundiert und nicht tatsächlich medizinisch notwendig ist. wieIn Deutschland gibt es laut Krankenkasse Barmer GEK "deutliche Anzeichen für Überversorgung im Krankenhaus". So sei zwischen 2003 und 2009 die Zahl implantierter neuer Hüften um 18 Prozent, die eingesetzter neuer Knie um rund 52 Prozent gestiegen. Bei Versicherten der Barmer GEK sei die Zahl der Bandscheiben-OP seit 2006 um 50 Prozent gestiegen. wieDas Geschäft mit Arzneimitteln boomt. Pro Jahr werden in Deutschland Medikamente im Wert von über 30 Milliarden Euro verordnet. "Angesichts der Tatsache, dass jedes Jahr Tonnen von Medikamenten auf dem Müll landen, muss man sich fragen, ob bedarfsgerecht verordnet wird, oder ob möglicherweise die Packungsgrößen nicht dem Bedürfnis des Patienten angepasst sind", sagt Cornelia Benzing. Sprecherin der Techniker Krankenkasse (TK) Rheinland-Pfalz. Als Beispiel nennt sie die Verordnung von Antibiotika oder auch von Ritalin, das immer mehr Kinder wegen angeblicher Aufmerksamkeitsdefizite erhielten: So ist laut Benzing die Anzahl der Kinder und Jugendlichen zwischen sechs und 18 Jahren, die mit dem Präparat behandelt worden, innerhalb von drei Jahren um ein Drittel gestiegen. Von 1000 Kindern erhielten etwa 37 Kinder Ritalin verordnet. 2006 seien es nur 28 je 1000 Kinder gewesen. Ähnlich verhalte es sich mit Antibiotika. Seit 2005 sei der Verbrauch in Rheinland-Pfalz um fast 28 Prozent gestiegen. wie

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