Vor 20 Jahren begann der Völkermord in Ruanda

Kigali · Vor genau 20 Jahren, zwischen April und Juni 1994, wurden in Ruanda mehr als 800 000 Menschen systematisch ermordet. Die Aufarbeitung und Vergebung fällt allen in dem afrikanischen Land schwer.

 Kigali Memorial Center in Kigali, Rwanda

Kigali Memorial Center in Kigali, Rwanda

Foto: Dai Kurokawa (EPA)

Kigali. Der Weg durch eine paradiesische Natur gleicht einem Abstieg in die Hölle: Der prächtige weiße Gebäudekomplex liegt an einem der vielen Hänge von Ruandas Hauptstadt Kigali. Wer an Palmen und üppigen Beeten vorbei die Terrassen der Außenanlage hinabsteigt, kann nicht über die großen Betondeckel hinwegsehen, unter denen die Überreste von mehr als 250 000 Menschen begraben sind. Marmortafeln mit endlosen Namenskolonnen der Ermordeten zeigen das Ausmaß des Völkermordes von 1994. Wände voller Fotos erinnern an viele der insgesamt 800 000 bis eine Million Opfer.
Dazwischen Zettel mit Kurznachrichten, hastig geschriebene Briefe des Abschieds. "Thierry Ishimwe, neun Monate alt, ein schmales und schwaches Baby", so wird eines der ermordeten Kinder vorgestellt. "Lieblingsgetränk: Muttermilch. Todesursache: Machete, in den Armen seiner Mutter." In Vitrinen stapeln sich die Kleider der Ermordeten, sind Knochen aufgeschichtet. Ordentlich aufgereiht finden sich von Macheten gespaltene Schädel, dazwischen Rosenkränze oder Ausweispapiere, auf denen genau verzeichnet stand, ob einer Hutu oder Tutsi war.Orgie der Gewalt


Es sind nun genau 20 Jahre vergangen, seit das Flugzeug des ruandischen Staatspräsidenten Juvenal Habyarimana über Kigali abgeschossen wurde - und eine beispiellose Orgie der Gewalt über das ostafrikanische Land hereinbrach: In nur 100 Tagen ermordeten radikale Hutu-Milizen Hunderttausende Angehörige der Tutsi-Minderheit und gemäßigte Hutu. Der Völkermord war lange vorbereitet: Radiosender verbreiteten Hassparolen, radikale Hutus horteten Macheten. Viele Opfer wurden in Stücke gehackt, andere bei lebendigem Leib in Kirchen verbrannt. 2500 UN-Blauhelme sahen dem Gemetzel tatenlos zu und wurden nach zehn Tagen abgezogen. Erst der Einmarsch von Exil-Tutis der Ruandischen Patriotischen Front (RPF) unter dem heutigen Staatspräsidenten Paul Kagame beendete die Massaker.
Schon zuvor hatte Ruanda mehrfach am Rand des Zerfalls gestanden. Dabei wurde der vermeintliche Rassengegensatz zwischen den Hutu-Ackerbauern und den Tutsi-Viehzüchtern erst von den deutschen Kolonialherren und nach dem Ersten Weltkrieg von den belgischen konstruiert.
Immer noch schwelt der Konflikt. Das kleine, zwölf Millionen Einwohner zählende Land ist der am dichtesten besiedelte Staat Afrikas. Die jüngere Generation - knapp 60 Prozent der Ruander sind jünger als 25 Jahre alt - hat den Völkermord nicht selbst erlebt. Auf der anderen Seite die Älteren: Täter und Opfer leben wieder Tür an Tür, teilen dieselbe Kirchenbank, schicken ihre Kinder in dieselbe Schule. "Reconciliation", Versöhnung, ist eines der meistgehörten Wörter in Ruanda.
Doch wahre Vergebung ist schwer. Dazu beitragen sollten die traditionellen Gacaca-Gerichte, vor denen sich die Täter im Beisein der ganzen Dorfgemeinschaft verantworten mussten. Bis 2012 wurden fast zwei Millionen Fälle verhandelt, 65 Prozent verurteilt. Wer gestand und zur Aufklärung des Hergangs beitrug, kam mit milden Strafen davon. Die Bewertungen der Gacaca-Tibunale gehen weit auseinander. Kritiker beklagten, dass die Gacaca-Justiz nicht internationalen Rechtsstandards entsprächen. Dem halten Befürworter entgegen, dass Ruanda angesichts des Ausmaßes der Verbrechen gar keine andere Wahl gehabt hätte.Blick nach vorne



20 Jahre nach dem Genozid versucht Ruanda, den Blick nach vorn zu richten. International gilt das Land in vielen Bereichen als Erfolgsgeschichte. Die Korruption wird hart bekämpft. Das Wirtschaftswachstum liegt regelmäßig zwischen sieben und acht Prozent. Ruanda dürfte die meisten der Millenniumsziele der Uno erreichen.
Doch es gibt auch eine andere Seite: Menschenrechtsorganisationen werfen der Regierung Kagame vor, Ruanda nach und nach in einen Polizeistaat zu verwandeln. Auch die Außenpolitik erscheint bisweilen aggressiv: So mischt sich Ruanda immer wieder in den Bürgerkrieg im benachbarten Kongo ein. Die USA stellten 2012 ihre Militärhilfe ein. Deutschland und die Niederlande strichen ihre direkte finanzielle Hilfe.

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