Vorfahrt für die Unersetzbaren

Der Sinn des Streikrechts ist es, die Arbeitgeber durch Niederlegung der Arbeit und die daraus entstehende Konsequenz finanzieller Verluste unter Druck zu setzen.

Dass man eben diese Konsequenz zum Anlass nimmt, einen Streik zu untersagen, ist absurd. Wer das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in die Beziehung Arbeitgeber/Arbeitnehmer einführen will, müsste konsequenterweise auch Unternehmens-Entscheidungen diesem Kriterium unterwerfen.Das Landesarbeitsgericht in Chemnitz hat ein indiskutables Urteil einer Unter-Instanz aufgehoben. Es war nicht anders zu erwarten. So weit, so klar.

Doch was nun dräut, ist ein Vorgeschmack auf kommende, heftige Zeiten: Ein knallharter Streik einer kleinen, aber durch ihre Unersetzbarkeit starken Gruppe um eine dramatische Besserstellung. Die Lokführer werden den Auftakt machen, aber irgendwann werden alle aufstehen, deren Arbeitskraft nicht beliebig austauschbar ist.

Die Arbeitnehmer ziehen damit eine Konsequenz, die die Unternehmen längst gezogen haben: Die Arbeit wird nach ihrem Marktwert kalkuliert. Einst, als Europa noch in eine sozialistische und eine kapitalistische Hälfte geteilt war, hatte die Bezahlung der Arbeit auch eine politische Komponente. Vor allem im Frontstaat Deutschland wollte man zufriedene, verlässliche Arbeitnehmer - und ließ sich das etwas kosten.

Mit dem Sieg des Kapitalismus, der Globalisierung und dem beinharten internationalen Wettbewerb wurde die Arbeit zu einer Marktware wie jede andere auch. Die Unternehmen haben outgesourct, Tarifverträge ausgehebelt, neue Strukturen entwickelt, um für die Ware Arbeit einen möglichst niedrigen Preis zu zahlen - und damit konkurrenzfähig zu bleiben. Wessen Arbeit auch andernorts und von anderen gemacht werden kann, der muss drastische Einbußen in Kauf nehmen - siehe Telekom.

Bei den Lokführern zeigt sich nun die andere Seite der gleichen Medaille. Sie sind spezialisiert und kurzfristig unersetzlich, und sie wollen entsprechend bezahlt werden. Dabei ist ihnen das Schicksal anderer, eher ersetzbarer Bahn-Bediensteter, ziemlich egal. Daher das zähe Bestehen auf einem eigenen Tarifvertrag. Man kann es ihnen nicht einmal übelnehmen.

Die Bahn wird zähneknirschend zahlen müssen. Sie wird es bei Schwächeren wieder einzusparen versuchen. In anderen Branchen wird es ähnlich laufen. Die Schere zwischen den Qualifizierten, Starken, Marktfähigen und den Austauschbaren wird weiter auseinanderklaffen. Keine schönen Aussichten. Aber auch keine Alternative in Sicht.

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