Vorurteile verfestigt

Bei seinem Amtsantritt versprach Horst Köhler den Deutschen, ein "unbequemer Präsident" zu werden. Das ist dem Bundespräsidenten spätestens mit seinen jüngsten Ost-West-Betrachtungen gelungen. Ob sich das Staatsoberhaupt über die Wirkungen der selbst ausgelösten Debatte freuen kann, darf freilich bezweifelt werden.

Köhlers Plädoyer für die Unrealisierbarkeit gleichwertiger Lebensverhältnisse zwischen neuen und alten Ländern ließe sich schlicht mit dem gegenteiligen Verfassungsgebot vom Tisch wischen. Aber so einfach ist die Sache nicht. Schließlich kommen die Äußerungen zu einem Zeitpunkt, da die Mauer in den Köpfen wieder wächst und das Land mental auseinander driftet. Vor diesem Hintergrund hätte es mehr Fingerspitzengefühls bedurft. Stattdessen ist Köhlers Vorstoß unfreiwillig dazu angetan, die Vorurteile zu verfestigen. Wenn wir uns mit den unterschiedlichen Lebensverhältnissen abfinden sollen, dann steht automatisch die Frage im Raum, warum es noch eines zweiten Solidarpakts bedarf, der dem Osten bis zum Jahr 2019 stolze 156 Milliarden Euro an Fördermitteln garantiert. Natürlich kann die grundgesetzlich verbriefte Gleichartigkeit der Lebensverhältnisse keine Gleichmacherei bedeuten. Dass die Wohnung in München genau so viel kosten soll wie in Cottbus ist eine absurde Vorstellung. Doch im konkreten Fall geht es um weit mehr. Der Solidarpakt ist die Konsequenz aus einem systembedingten West-Ost-Gefälle. Diese Tatsache lässt sich auch 14 Jahre nach der deutschen Einheit nicht mit dem Verweis auf Nord-Süd-Unterschiede verwischen. Man darf getrost unterstellen, dass der Bundespräsident keiner Spaltung das Wort reden wollte. Aber manchmal ist gut gemeint eben das Gegenteil von gut. nachrichten.red@volksfreund.de

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