Warten auf Dresden

BERLIN. Union und SPD sind auch bei ihrem zweiten Sondierungsgespräch für eine große Koalition in der Frage des künftigen Bundeskanzlers nicht weitergekommen.

Man wechselt sich ab. Nach dem ersten Sondierungsgespräch vor einer Woche traten noch Kanzlerkandidatin Angela Merkel und CSU-Chef Edmund Stoiber zuerst vor die Presse. Nach der zweiten Runde gestern hatten SPD-Chef Franz Müntefering und Kanzler Gerhard Schröder den Vortritt. Eine Randbeobachtung, die aber durchaus als Zeichen verstanden werden soll: Man spricht tatsächlich auf Augenhöhe miteinander. Zumindest über die Inhalte. "Das war heute ein fruchtbares Gespräch", resümierte Müntefering am Abend. "Wir haben ein ernsthaftes, konstruktives Gespräch geführt", zeigte sich auch Merkel erfreut. Die große Koalition naht also mit großen Schritten.

Vor dem Reichstag herrschten gestern regelrechte Jagdszenen kurz vor Beginn der zweiten Runde der Sondierungsgespräche von Union und SPD. Wann immer eine Kolonne der dunklen Limousinen vorfuhr, stürzten sich zig Kamerateams und zahlreiche Touristen mit Fotoapparaten auf den aussteigenden Politiker - CSU-Chef Stoiber flüchtete daher förmlich in die angrenzende parlamentarische Gesellschaft, wo das Treffen erneut stattfand. Kanzler Gerhard Schröder und Herausforderin Angela Merkel nutzten demgegenüber lieber den unterirdischen Zugang vom Reichstag aus. Sicher ist sicher. Im "Raum Sachsen" ging es diesmal für die auf jeweils fünf Spitzenleute erweiterte Runde zur Sache. Ein Omen? In dem ostdeutschen Freistaat ist eine große Koalition bereits installiert. Immerhin hatte sich jede Seite gut drei Stunden im Terminkalender freigeschaufelt. Ausschließlich um Inhalte ging es. Die derzeit umstrittenste Frage nach der Kanzlerschaft blieb in der Debatte bewusst ausgeklammert. Union und SPD wollen diesbezüglich mindestens abwarten, bis am kommenden Sonntag in Dresden nachgewählt worden ist. Wer den heftig umkämpften Wahlkreis 160 gewinnt, kann seine Position beim Koalitionspoker als gestärkt ansehen.

Und dann, heißt es, werden in der nächsten Woche langsam Steine ins Rollen kommen. Nur welche? Gerhard Schröders Zeit im Amt scheint tatsächlich dem Ende entgegen zu gehen - neben Müntefering wirkte er gestern bereits wie nur dabei, aber nicht wie mittendrin. Beim SPD-Chef laufen ohnehin alle Fäden zusammen. Noch wird über Schröders Lage aber nur hinter den Berliner Kulissen getuschelt, davor verpacken es seine Parteifreunde verbal artig verklausuliert. Und da niemand von den politischen Beobachtern in Berlin wirklich Genaues weiß, schießen Spekulationen munter ins Kraut. Beispielsweise die, dass Innenminister Otto Schily (SPD) Außenminister und Vizekanzler unter einer Regierungschefin Angela Merkel werden wolle. Schily ist zwar ein politisches Schwergewicht, aber immerhin schon 73 Jahre alt, was ihn für den absoluten Stressposten des Außenministers nicht gerade prädestiniert. Auch eine andere Variante wird debattiert, die tatsächlich einen gewissen Charme hat: Im Falle einer großen Koalition ohne Schröder soll SPD-Chef Müntefering Vizekanzler werden. Das würde die Demütigung für die Genossen lindern, der verhassten Angela Merkel die Kanzlerschaft zu überlassen.

Denn nur Müntefering scheint in der Lage, die SPD hinter die große Koalition zu scharen. Er hat die Autorität und das Vertrauen der Basis - und wäre dann der Garant der sozialen Gerechtigkeit. Noch gilt aber für die Genossen die unausgesprochene Linie, wenn Schröder sich zurückzieht, muss auch Merkel gehen. Diffus ist und bleibt somit das Bild in der Personalfrage. Sicher ist inzwischen nur, dass Edmund Stoiber von München nach Berlin wechseln wird, wenn die Verhandlungen erfolgreich verlaufen. Das betonte er gestern. Intensiv besprochen wurden die Themen Arbeit, die Haushaltsituation, die Föderalismusreform und die Reform der sozialen Sicherungssysteme. Man einigte sich darauf, dass es keine Koalition des "kleinsten Nenners" geben dürfe, "wir haben offen über unsere Einschätzungen gesprochen", so Müntefering. "Sondieren sie schön weiter", empfahl er zum Schluss der Presse. "Wir tun dies nächste Woche auch."

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