Wenn Berlin auf Brüssel pfeift

Berlin · 84 EU-Verfahren laufen derzeit gegen Deutschland. Das sind deutlich mehr als vor vier Jahren. Strafzahlungen befürchtet Berlin aber nicht.

Wenn Berlin auf Brüssel pfeift, dann greifen die EU-Beamten zu einem scharfen Schwert: dem Vertragsverletzungsverfahren. Nach Informationen unserer Redaktion laufen derzeit 84 dieser Verfahren gegen Deutschland, weil europäisches Recht nicht, nur verspätet oder schlecht umgesetzt worden ist. Deutlich mehr als noch vor vier Jahren. Denn 2013 waren es am Ende der damaligen Legislaturperiode lediglich 63 Verfahren. Das geht aus einer Antwort des Bundeswirtschaftsministeriums auf eine Anfrage der Grünen hervor.
Vor allem bei der Umsetzung Brüsseler Richtlinien und Verordnungen im Verkehrs- und Umweltbereich hat sich die große Koalition offenbar nicht mit Ruhm bekleckert: Demnach belegt mit 21 anhängigen Verfahren das Bundesverkehrsministerium von Ressortchef Alexander Dobrindt (CSU) den Spitzenplatz. Es folgt das Umweltministerium von Barbara Hendricks (SPD) mit 18.

So rügte Brüssel beispielsweise zuletzt die fortgesetzte Überschreitung der Grenzwerte bei Feinstaub und Stickoxiden, oder aber das Fehlen von Plänen zur Lärmreduzierung an Hauptverkehrsstraßen. Auch sei die Bundesrepublik ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen, gegen die anhaltend hohen Nitratwerte im Grundwasser verstärkt vorzugehen. "Gerade das Verkehrsministerium und das Umweltministerium machen bei der Umsetzung europäischer Vorgaben eine ganz schlechte Arbeit", urteilt Grünen-Experte Markus Tressel. Dabei hätten Union und SPD auf europäischer Ebene die Regelungen mit beschlossen, "die sie jetzt national nicht umsetzen".

Auf Rang drei der Liste der Übeltäter rangieren das Bundesfinanzministerium von Wolfgang Schäuble und das Innenministerium von Thomas de Maizière (beide CDU) mit jeweils zwölf Verfahren. Es folgen das Wirtschaftsressort (7), Ernährung und Landwirtschaft (5), das Justizressort (4) und das Arbeitsministerium (3). Schlusslicht aller Ministerien ist das Gesundheitsministerium von Hermann Gröhe (CDU) mit zwei Beanstandungen. Oft geht es auch um technische Angelegenheiten bei der Umsetzung von EU-Vorgaben.

Aus dem Wirtschaftsministerium hieß es unlängst, finanzielle Sanktionen seien nicht zu erwarten. Vertragsverletzungsverfahren bestehen zunächst aus einem Mahnschreiben (1. Stufe) und der Übersendung einer begründeten Stellungnahme (2. Stufe). Strafzahlungen sind erst möglich, wenn gegen Deutschland ein Ersturteil vorliegt, Deutschland diesem Urteil nicht nachkommt und die Kommission in der Folge erneut den Europäischen Gerichtshof anruft. Dann kann laut Wirtschaftsministerium ein Pauschalbetrag von bis zu 34 Millionen Euro verhängt werden, oder ein Zwangsgeld von 14 100 bis 848 000 Euro am Tag nach Verkündung des Urteils.
Die in einem solchen Fall zu zahlende Summe wird nach einer Formel berechnet, die die Größe des Mitgliedslands berücksichtigt sowie die Schwere des Verstoßes.

Fakt ist allerdings: Monat für Monat schreibt die Kommission Mahnbriefe an Mitgliedstaaten, wenn diese das EU-Recht nicht anständig umsetzen. Bislang ist die Bundesrepublik stets glimpflich davon gekommen. Strafzahlungen wurden noch nie verhängt. Aber damit gedroht: Erinnert sei an den Streit um die Vorratsdatenspeicherung vor einigen Jahren. Damals hatte die Kommission in Brüssel ein Zwangsgeld von täglich über 315 000 Euro beantragt, weil die entsprechende Richtlinie trotz mehrfacher Aufforderung nicht ins deutsche Recht übertragen worden war. Zur Vollstreckung kam es nicht.

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