Wenn Kinder unters Messer kommen

Berlin · Ärzte entfernen bei Kindern und Jugendlichen heute insgesamt seltener den Blinddarm oder die Mandeln. Doch nach wie vor gibt es erhebliche regionale Unterschiede bei der Zahl der Operationen. Zu diesem Ergebnis kommt der Versorgungsreport 2015 des Wissenschaftlichen Instituts der AOK, der gestern in Berlin vorgestellt wurde.

Berlin. Die gesundheitliche Versorgung der Kinder und Jugendlichen in Deutschland ist vorbildlich. Allerdings gibt es auch Anlass zur Sorge: Wie oft operiert wird, ist regional sehr unterschiedlich. Das geht aus einer aktuellen Untersuchung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (Wido) hervor, die am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde.

Familie und Volksfreund


Nach Erkenntnissen des Robert-Koch-Instituts weisen 94 Prozent der Kinder und Jugendlichen einen sehr guten bis guten allgemeinen Gesundheitszustand auf. Im Grundsatz bestätigt der aktuelle AOK-Report diesen Befund. Dies dürfe aber "nicht darüber hinwegtäuschen, dass es Entwicklungen gibt, bei denen wir gegensteuern müssen", erklärte Martin Litsch, designierter Vorstand des AOK-Bundesverbandes.
Die Wido-Experten haben dazu die Mandel- und Blinddarmoperationen bei Kindern und Jugendlichen unter die Lupe genommen. Das sind die beiden häufigsten stationären Eingriffe in dieser Altersgruppe. Das alarmierende Ergebnis: Ob und wann operiert wird, hängt stark vom Wohnort des Betroffenen ab. Zwar ist die Zahl solcher Eingriffe bei Patienten bis zu 24 Jahren zwischen 2006 und 2012 in nahezu allen Bundesländern zurückgegangen. Doch im Saarland lag die Zahl der an den Mandeln operierten Patienten zuletzt mit 55 je 10 000 Einwohner mehr als doppelt so hoch wie in Sachsen mit nur 25. In Rheinland-Pfalz waren es 43 bezogen auf 10 000 Einwohner.
Ähnlich starke Abweichungen gab es auch bei Blinddarmentfernungen. Die Behandlungsrate bei Kindern bis 17 Jahren schwankte hier zwischen 18,1 je 10 000 Einwohner in Hamburg und 36,2 in Thüringen.
Die großen Unterschiede zwischen den Regionen könnten nicht allein medizinische Gründe haben, meinte Wido-Geschäftsführer Jürgen Klauber. Eine schlüssige Erklärung liefern die Experten allerdings nicht. Nur Vermutungen. So könnte der Wille von Eltern für eine schnelle Heilung ihrer Kinder eine Rolle spielen, aber auch die Anzahl der Kliniken in den jeweiligen Regionen und ihre wirtschaftliche Lage.
Die Krankenkassen gehen schon länger davon aus, dass Kliniken auch unnötig operieren, um Investitionslücken zu schließen, für die eigentlich die Bundesländer zuständig sind.
Dabei bergen stationäre Eingriffe grundsätzlich Risiken. "Werden unnötige Operationen vermieden, unterbleiben auch damit verbundene Beeinträchtigungen", meinte Klauber. So kommt es bei fast fünf Prozent der Mandelentfernungen zu Nachblutungen, die zum Teil operativ versorgt werden müssen.
Umso wichtiger sind die ärztlichen Diagnosen. Erst seit wenigen Monaten gibt es eine bundesweite Leitlinie der Fachgesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und der Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, wonach etwa die operative Entfernung der Mandeln erst dann eine Option ist, wenn eine eitrige Mandelentzündung in den zwölf bis 18 Monaten zuvor mindestens sechs Mal mit Antibiotika therapiert wurde.
Tatsächlich kam jedoch laut AOK-Report bei mehr als jedem dritten Operierten (35 Prozent) im entsprechenden Zeitraum zuvor kein Antibiotikum zum Einsatz. "Offensichtlich wurden in einem beachtlichen Teil der Fälle die Möglichkeiten der konservativen Therapie wenig oder überhaupt nicht genutzt", kritisierte Klauber. Ob die neue Leitlinie zu spürbaren Veränderungen führt, soll Gegenstand weiterer Untersuchungen sein.

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