Wenn zwei Drittel die Hälfte sind…

BERLIN. Die Steuerreform ist beschlossen - als Kompromiss. Nach dem Verhandlungsmarathon im Vermittlungsausschuss sehen sich alle Parteien als Sieger.

Es war am frühen Montag-Morgen um 3,26 Uhr, als ein aufgeräumt wirkender Kanzler den Durchbruch beim umfangreichsten Reformpaket in der Geschichte der Republik verkündete. Den Kompromiss könne man "sehr gut vertreten", meinte Gerhard Schröder vor einer immer noch stattlichen Schar übernächtigter Medienvertreter. Auch Angela Merkel, des Kanzlers Chef-Gegenspielerin von der Opposition, wollte sich das Blitzlichtgewitter trotz sichtbarer Müdigkeitsfalten nicht entgehen lassen. Das Wünschenswerte sei mit dem Machbaren verbunden worden, sagte die CDU-Vorsitzende.Marathon um Macht und Moneten

Diese Harmonie sollte sich erst am Ende des über zehnstündigen Verhandlungs-Marathons um Macht und Moneten einstellen. Bis dahin war das Szenario an Dramatik kaum zu überbieten. Plenarberatungen des Vermittlungsausschusses wechselten sich mit separaten Treffen der A- und B-Seite (SPD- und unionsregierte Länder) sowie diversen Arbeitsgruppenbesprechungen ab. Dazwischen gab es immer wieder Auszeiten, auf denen die Opposition wegen vernehmlicher Uneinigkeit bestand. Und über allen Kungeleien thronte eine so genannte Elefantenrunde, die sich im Kern aus den Parteichefs von SPD, CDU, CSU und FDP, dem Vizekanzler Joschka Fischer, SPD-Fraktionschef Müntefering und ein paar Ministerpräsidenten rekrutierte. Wegen der zähen Verhandlungen war irgendwann nach Mitternacht sogar das Brennöl zum Warmhalten der Schnitzel aufgebraucht. Und Nachschub ließ sich nirgendwo auftreiben. Ein Teilnehmer beschrieb dann auch die Atmosphäre als "Achterbahn der Gefühle", was politisch hieß, Durchbruch und Desaster lagen oft dicht beieinander.Langes Geschacher hinter verschlossenen Türen

Vor allem nach dem ersten Auftreten des Kanzlers hinter verschlossenen Türen war die Union stocksauer. Ihr Verlangen, das Vorziehen der Steuerreform höchstens zu 25 Prozent über neue Schulden zu finanzieren, ließ Schröder nämlich nur für den Anteil des Bundes gelten. Von den 15,6 Milliarden Euro, die die komplette dritte Steuer-Stufe der öffentlichen Hand an Einnahmeausfällen beschert, gehen aber rund acht Milliarden zu Lasten der gebeutelten Etats von Ländern und Kommunen. "Erst so ein Brimborium machen und dann in der Sache nichts liefern", schimpfte CDU-"General" Laurenz Meyer über die Gegenseite. Auch die separat tagende Arbeitsgruppe Arbeitsmarkt ging schon nach kurzer Zeit ergebnislos auseinander. "Weil Herr Koch so kreativ war", wie die grüne Fraktions-Chefin Krista Sager lästerte. Hintergrund war die umstrittene Zuständigkeit für die künftigen Empfänger von Arbeitslosengeld II. In der Runde hatte Hessens Ministerpräsident Roland Koch (CDU) auf der Obhut durch die Kommunen bestanden. So traten die Verhandlungen stundenlang auf der Stelle. Bewegung kam erst in die Reihen, als der Kanzler sein Angebot nachbesserte und den Anteil der geplanten Privatsierungserlöse auf mehr als fünf Milliarden verdoppelte, wovon die Länder die Hälfte zur Deckung der Steuerausfälle abbekommen sollten. Als die Union dann aber noch darauf drängte, der Bund möge doch zusätzlich 2,5 Punkte aus der Umsatzsteuer (3,5 Milliarden Euro) an die Länder weiter reichen, war wieder Schluss mit lustig. Bei Rot-Grün, aber auch bei den FDP-Unterhändlern hatte sich ohnehin der Eindruck festgesetzt, dass maßgebliche Mitverhandler in der Union, wie Koch, Niedersachsen Ministerpräsident Christian Wulff und der Saar-Regierungschef Peter Müller auf ein Scheitern der Gespräche hinarbeiteten. "Wenn das um sieben Uhr geplatzt wäre, dann hätten die sich ein Gläschen genehmigt." Dagegen legten Merkel und Bayerns Premier Edmund Stoiber viel Konstruktivität an den Tag, oder besser: in die Nacht, wie führende Sozialdemokraten zufrieden registrierten. Auf die CDU-Vorsitzende ging dann auch die rettende Idee zurück. Ihr Motto: Wenn die Finanzierungslücke zu groß ist, muss eben die Steuerreform kleiner werden. Also wurden weit nach Mitternacht neue Steuersätze durchgerechnet, um die Neuverschuldung auf maximal ein Viertel der Steuerausfälle zu begrenzen. Heraus kam nichts Halbes und nichts Ganzes - sondern eine Zwei-Drittel-Lösung. Und auch die ist eine Frage der politischen Betrachtung. Die abgespeckte Variante wollte sich trotzdem keine Partei mies reden lassen. Schon gar nicht die SPD. "Zwei Drittel ist auch ein Ergebnis, das sich sehen lassen", suchte der Kanzler Schröder die Deutungshoheit zu gewinnen. Auch die FDP vermochte "viel blau-gelbe Tinte" in der Abmachung zu erkennen. Der heimliche Ober-Grüne Joschka Fischer hätte sich zwar die "volle Steuerentlastung gewünscht", aber wegen der harten Haltung der Union beim Subventionsabbau sei eben nicht mehr drin gewesen. KOMMENTAR SEITE 2 WEITERER BERICHT SEITE 4

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