"Wettbewerb gegen kranke Menschen"

BERLIN. (ve) Das Tauziehen um die Gesundheitsreform tritt in die entscheidende Phase. Unter Leitung von Sozialministerin Ulla Schmidt (SPD) berieten gestern zum ersten Mal jeweils vier Fachpolitiker von Union und SPD über einen neuen Arbeitsentwurf, aus dem bis spätestens Mitte Oktober eine Gesetzesvorlage werden soll.

Die ursprüngliche Fassung hatte wegen der vermeintlichen Abkehr von den im Juli vereinbarten Eckpunkten zu Rücktrittsforderungen an die Adresse Schmidts geführt. Im Mittelpunkt der zweistündigen Unterredung stand nach Informationen unserer Zeitung das Problem der künftigen Ausgestaltung eines krankheitsbezogenen Finanzausgleichs zwischen den Kassen. Die SPD beharrt auf einer Berücksichtigung der Krankheitsbilder, um Kassen mit besonders vielen und teueren Patienten im Wettbewerb nicht zu benachteiligen. Die Union wiederum möchte für diesen so genannten Morbi-RSA nur allgemeine Kriterien festlegen. SPD-Fraktionsvize Elke Ferner warnte die Union, dass der geplante Gesundheitsfonds, aus dem alle Kassen einen bestimmten Betrag pro Versicherten erhalten sollen, nur starten könne, wenn zeitgleich auch der Morbi-RSA realisiert werde. Zur Schlichtung des Streits wurde ein "Workshop" vereinbart, bei dem aktuelle Daten zur Vorbereitung des Finanzausgleichs auf den Tisch kommen sollen. Uneins waren sich Union und SPD auch über die Belastungsobergrenze, bis zu der Versicherte Zusatzbeiträge zahlen sollen, wenn ihre Kasse mit den Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht auskommt. Nach den Eckpunkten sind dafür maximal ein Prozent des Haushaltseinkommens vorgesehen. Zur Vermeidung allgemeiner Beitragserhöhungen will die Union diese Belastungsgrenze auf bis zu fünf Prozent ausweiten. "Für uns ist das nicht verhandelbar", hieß es dazu aus SPD-Verhandlungskreisen. Ein weiterer Konfliktpunkt war die Entschuldung der Krankenkassen. Nach dem ersten Arbeitsentwurf sollte es dafür einen kasseninternen Ausgleich geben. So müsste zum Beispiel die AOK Sachsen der wirtschaftlich angeschlagenen AOK in Berlin unter die Arme greifen. Die Union steht jedoch auf dem Standpunkt, dass jede Kasse für ihre wirtschaftliche Lage selbst verantwortlich ist. Am morgigen Mittwoch sollen die Gespräche fortgesetzt werden. Unterdessen reißt die Kritik der Gesundheitslobby an der Reform nicht ab. Der AOK-Bundesverband legte gestern ein Gutachten für einen stärkeren Wettbewerb zwischen Ärzten und Kassen vor. AOK-Chef Jürgen Ahrens forderte dabei eine grundlegende Überarbeitung der Reformpläne. Sie stärkten "nur einen falschen Wettbewerb: den Wettbewerb gegen kranke Menschen", betonte Ahrens. So zwinge der Zusatzbeitrag dazu, dass sich die Kassen künftig nur um gesunde und gut verdienende Mitglieder bemühten: "Wer sich dagegen um Kranke kümmert, geht in Konkurs."

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