Wie die EU den Zustrom bremsen will

Brüssel · Das wichtigste Ergebnis des EU-Balkangipfels: Nach anfänglichem Streit haben sich die Regierungschefs zumindest auf dem Papier darauf verständigt, dass die "Politik des Durchwinkens" ein Ende haben soll. Dazu sollen auch neue Unterkünfte für 100 000 Flüchtlinge beitragen.

Brüssel. Bist Du glücklich, Alexis?" fragte Kanzlerin Angela Merkel, worauf Griechenlands Premier Tsipras erwiderte "Damit kann ich leben". So ist, wenn man Sitzungsbeobachtern Glauben schenken darf, kurz nach Mitternacht am Montagmorgen der Brüsseler Minigipfel der Länder entlang der Flüchtlings-Balkanroute zu Ende gegangen. Die Zusage Athens, bis Jahresende Unterkünfte für 30 000 Migranten zu schaffen und anschließend noch einmal 20 000, war Grundlage dafür, dass auch die Balkanländer zwischen dem EU-Erstaufnahmeland Griechenland und dem Wunschziel Deutschland zusammen mit dem UN-Flüchtlingshilfswerk ihre Aufnahmekapazität wiederum um 50 000 Plätze aufstocken wollen.
Die zusammen 100 000 Plätze für Flüchtlinge entlang der Balkanroute, die EU-Kommissions-chef Jean-Claude Juncker zufolge "den Strom verlangsamen" sollen, kamen überraschend, nachdem der Auftakt des Verhandlungstages von düsteren Prognosen und persönlichen Attacken begleitet war. So verhöhnte etwa Kroatiens Premier Zoran Milanovic den Balkan-Krisengipfel als "netten Sonntagsplausch, weil das Problem in der Türkei und Griechenland gelöst werden muss". Tsipras wiederum, dem vom mazedonische Präsidenten "ein sehr niedriges Niveau an Kooperation" bescheinigt wurde, wollte nur etwas tun, wenn auch die Balkanländer einen Teil der Last selbst schultern würden.
Dass am Ende zumindest auf dem Papier konkrete Schritte vereinbart wurden, schreibt die EU-Kommission ihrem Verhandlungsgeschick zu. Entgegen ersten Planungen setzte Juncker die allgemeine Aussprache an den Beginn des Treffens, bei dem es tatsächlich "gegenseitige Schuldzuweisungen und Drohungen" gab, wie eine EU-Diplomatin berichtet: "Als die Luft sich dann wieder gereinigt hatte, kam ein konsensfähiger Text auf den Tisch."
Für Griechenland war entscheidend, dass für die Unterbringung von mehr Schutzsuchenden Geld fließt. Und auch die Aufnahmelager auf dem Balkan, deren genaue Verteilung auf die Länder erst in den kommenden Wochen ausgearbeitet werden soll, wird vorrangig vom UN-Flüchtlingshilfswerk geschultert, das sich aus den Beiträgen aller Mitgliedstaaten speist. "Finanzielle Unterstützung für Griechenland und den UNHCR wird erwartet", heißt es entsprechend nun im Abschlusstext des Gipfels.
Garantien, dass die Gelder fließen und die Unterkünfte gebaut werden, gibt es genauso wenig wie für die Umsetzung der zentralen Aussage, wonach die "Politik des Durchwinkens von Flüchtlingen ohne Information des Nachbarstaates inakzeptabel" ist. Juncker gab sich zwar überzeugt, dass der Beschluss befolgt wird ("Das wird so sein"), doch gründet der Optimismus allein auf dem vereinbarten Informationsaustausch. Dazu sollten die beteiligten Regierungschefs noch im Verlauf des Montags hochrangige Ansprechpartner benennen, die "täglichen Austausch und Koordination" ermöglichen sollen. Einmal wöchentlich schalten sie sich alle per Videokonferenz mit der EU-Kommission kurz und bewerten den Fortschritt - der erste Termin ist am Donnerstag.
Ganz allgemein sagten die Regierungschefs zu, in ihren Ländern für Notunterkünfte, Nahrung, Wasser und sanitäre wie medizinische Versorgung der Flüchtlinge zu sorgen - wo sie dies nicht leisten können, soll das EU-Katastrophenschutzverfahren eingeleitet werden, wie Kroatien dies am Montag schon getan hat. Das vereinfacht die Lieferung von Zelten, Betten, Heizkörpern oder Arzneimitteln aus anderen EU-Staaten. "Mehr Unterkünfte entlang der Strecke", sagte der UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres, der an dem Brüsseler Treffen teilnahm, "wird auch die humanitäre Versorgung der Menschen dort erleichtern." Merkel sprach von "Warte- und Ruhezonen für Flüchtlinge".
Nicht nur eine bessere Versorgung soll die Menschen "entmutigen", sich zur nächsten Grenze aufzumachen. So soll den Flüchtlingen unter anderem von den Mitarbeitern des UNHCR und der EU-Asylbehörde EASO klargemacht werden, dass sie sich nicht unkontrolliert in ihre bevorzugten Zielländer aufmachen können, sondern sich registrieren und die Fingerabdrücke abnehmen lassen müssen. Kommissionschef Juncker brachte dies in der Nacht auf folgende Formel: "Keine Registrierung, keine Rechte."
Nur dann und im Falle einer begründeten Aussicht auf Asyl würden die Schutzsuchenden auf verschiedene Staaten verteilt - und zwar entlang der Balkanroute einzig von Griechenland aus. Neben Italien gilt die Ende September beschlossene EU-Quote für 160 000 Flüchtlinge nur für die in Hellas ankommenden. "Es gibt keine Verteilungsflüge von Kroatien oder Slowenien", sagt ein EU-Beamter.
Er muss freilich einräumen, dass von Athen oder Thessaloniki bisher noch kein Flug gestartet ist. Derzeit versuchen die zuständigen Stellen, eine erste Passagierliste zusammenzustellen. "Das ist schwierig, weil viele Flüchtlinge denken, dass sie auf der Balkanroute besser dran sind", so der europäische Offizielle, "sie müssen erst Vertrauen fassen, dass wir sie mit diesen Flügen wirklich in ein EU-Land bringen und nicht abschieben wollen."
Die 160 000-Marke ist also noch maximal entfernt - vom Langfristvorhaben, das Guterres umriss, ganz zu schweigen: "Ziel ist, den unkontrollierten Flüchtlingsstrom durch eine organisierte Umverteilung über einen vielen angenehmeren Weg, nämlich das Flugzeug, zu ersetzen - vom Erstaufnahmeland auf alle EU-Staaten.
Die Lücke, die zwischen Beschluss und Umsetzung klafft, nährt auch Zweifel an einer anderen Zahl. So sollen nun 400 Polizisten nach Slowenien entsandt werden, um die Lage unter Kontrolle zu bringen - doch andere Länder warten ebenfalls noch auf zugesagte Grenzschützer. Das könne "nicht heute früh oder morgen" umgesetzt sein, räumte Merkel ein, doch sei das Treffen "ein Baustein" zur Lösung der Flüchtlingskrise gewesen; "viele weitere Schritte" müssten folgen.

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