Wie ein Märchen aus 1001 Nacht

Berlin. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hat den Poker um die Macht in Deutschland für sich entschieden und wird erste Kanzlerin der Republik.

Angela Merkels märchenhafter Weg zur Macht begann am 10. November 1989. Die unscheinbare Physikerin an der Akademie für Wissenschaften in Ostberlin begann sich am Tag nach dem spektakulären Fall der Mauer Gedanken zu machen über ihr persönliches Engagement in der Politik eines Landes, dessen Unterdrückungssystem sie in stillem Fatalismus hingenommen hatte. Ihr Instinkt sagte ihr schon damals, dass umwälzende Veränderungen bevorstanden, dass ihr Traum von einem Leben in Freiheit und Selbstverantwortung Wirklichkeit werden könnte - und dass sie aktiv mitgestalten müsste bei der Schaffung neuer Strukturen. Dass die deutsche Einheit greifbar nahe war, wusste die 35jährige Pfarrerstochter aus der uckermärckischen Provinz in diesen hektischen Tagen noch nicht. Und die Vorstellung, dass sie selbst einmal an der Spitze eines der stärksten und wichtigsten Länder der Erde stehen würde, gehörte damals zur Kategorie des Undenkbaren.Jetzt, 15 Jahre später, ist es Realität: Angela Merkel wird - vorbehaltlich ihrer Wahl im Bundestag - Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Und damit erste Frau der deutschen Geschichte in solch einer Machtposition. Welch eine Karriere! Vom Chaos der Nachwendezeit, als sie einfache Pressesprecherin beim "Demokratischen Aufbruch" (DA) war, über die schon bedeutendere Stelle als stellvertretende Regierungssprecherin des letzten DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, kam sie 1990 in den Bundestag. Ex-Verkehrsminister Günther Krause, ihr heutiger Intimfeind, verhalf ihr zum Wahlkreis Rügen-Stralsund-Grimmen. Sie blieb aber nicht lange das "graue Mäuschen" (Ex-DA-Vize Erhard Neubert). Schon im Januar 1991 machte Bundeskanzler Helmut Kohl sie auf Empfehlung Maizières und Krauses zur Bundesministerin für Frauen und Jugend.

Durchbruch im Jahr 2000

Fortan war die seinerzeit stets ungeschminkte Frau mit der schlichten Kurzhaarfrisur und dem schüchtern wirkenden Auftreten "Kohls Mädchen".

Ein Image, das sie erst im Dezember 1999 ablegen konnte, als sie ihren politischen Ziehvater in einem denkwürdigen Aufsatz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unverhohlen aufforderte, die Konsequenzen aus der CDU-Spendenaffäre zu ziehen.

Merkel, ostdeutsch, geschieden (seit Dezember 1998 wieder verheiratet, mit Chemieprofessor Joachim Sauer), kinderlos, protestantisch, unkonventionell, passte damals in kein politisches Raster - und erst recht nicht in das Weltbild der rheinisch-katholisch und konservativ geprägten CDU. Schon als der seinerzeitige Partei- und Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble sie 1998 zur Generalsekretärin der CDU machte, war ein deutliches Grummeln in den Gliederungen zu vernehmen. Die Personalie war vielen nicht geheuer. Doch mit der ihr eigenen energischen Zielstrebigkeit und ruhigen Beharrlichkeit erzwang sich Merkel sukzessive Respekt und Akzeptanz. Der entscheidende Durchbruch gelang ihr Anfang des Jahres 2000, als auch Schäuble stürzte und die Nachfolge im Vorsitz der arg gebeutelten Partei zu klären war. Merkel erfand die Regionalkonferenzen - auf denen sie sich als "Sauberfrau" und souveräne Managerin des Geschehens profilieren konnte. Plötzlich mochte man bei den Christdemokraten die zur "Angie" gereifte Führungsperson, das "Mädchen" war erwachsen geworden. Ihre Wahl zur Parteivorsitzenden im Frühjahr 2000 in Essen geriet zum Triumph: Die CDU hatte einen neuen, einen weiblichen Star. Indes: Der Alltag kam, der Glanz ging, ein Stück Ernüchterung machte sich breit. Bei der Entscheidung über die Kanzlerkandidatur Anfang 2002 hatte Angela Merkel nicht wirklich eine Chance.

CSU-Chef Edmund Stoiber setzte sich, unterstützt auch aus Reihen der CDU, auf der ganzen Linie durch. Merkel durfte beim viel zitierten "Wolfratshausener Frühstück" ehrenvoll den Rückzug antreten und Stoiber das Unionsfeld überlassen (das der nicht nutzte).

Zwar hatte sie im Dezember 2003 noch einmal einen großen Auftritt auf dem Bundesparteitag in Leipzig, als sie die Basis zu Jubelstürmen hinriss und die so genannte Kopfpauschale sowie das radikale Steuersystem des Finanzexperten Friedrich Merz auf beeindruckende Weise zur Programmatik erhob.

Verkorkster Wahlkampf

Doch dieser Erfolg kehrte sich später ins Gegenteil um: Die Schwesterpartei rebellierte und verlangte weichere Varianten. Merkel musste nicht nur nachgeben, sondern fortan auch mit dem Stigma der "kalten, unsozialen Karrierefrau" leben. Zudem warf ihr der parteiintern hoch geschätzte Finanzexperte Merz im Herbst 2004 den Krempel vor die Füße und zog sich in die Schmollecke zurück. Seit dieser Zeit hatte sich Merkel auch noch des Vorwurfs zu erwehren, sie "könne nicht" mit Männern. Tatsächlich behauptet auch in der Union bis heute niemand, Merkel sei konkurrenzlos - im Gegenteil: Die ehedem "jungen Wilden" Roland Koch, Peter Müller, Christian Wulff oder Friedrich Merz könnten sich durchaus vorstellen, (dereinst) selbst Kalif zu sein anstelle der Kalifin. Nun, trotz eines schwachen Wahlkampfs, in dem sie schwere Fehler beging (Ankündigung der Mehrwertsteuererhöhung, Berufung des radikalen Steuerrechtlers Paul Kirchhof), hat Angela Merkel es nun geschafft.

Und so wird sich die Nation schon bald an die Formulierung "Frau Bundeskanzlerin" gewöhnen müssen. Es mutet an wie ein Märchen aus 1001 Nacht; doch es ist ein modernes Märchen anno domini 2005.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort