Wie man mit gesundem Essen auch lesen lernen kann: Trier hat sich im Kampf gegen Analphabetismus bundesweit einen Namen gemacht

Trier · Jeder zehnte Mensch in Deutschland kann nicht lesen und schreiben. Was den deprimierenden Begriff „funktionaler Analphabetismus“ trägt, lässt sich ändern: Ein neues Projekt nimmt sich vieler leseschwacher Arbeitnehmer an.

Tim-Thilo Fellmer ist der "Vorzeigefall". Als Jugendlicher galt er als Legastheniker, konnte nicht richtig lesen und schreiben. Irgendwann fasste er den Mut, seinen Mitmenschen anzuvertrauen, dass er Analphabet ist. Dank seiner Freundin, die für ihn während der Ausbildung seine Berichtshefte schrieb, besuchte er Kurse, um lesen und schreiben zu lernen. Bis er es konnte, dauerte es zehn Jahre. Heute ist Tim-Thilo Fellmer Kinder- und Jugendbuchautor, sein eigener Verleger - und Botschafter des Bundesverbands für Alphabetisierung und Grundbildung. Er engagiert sich dafür, dass Kinder lesen und schreiben lernen. Am 7. November ist Tim-Thilo Fellmer zu Gast in Trier, wird im Rahmen des 14. Trierer Bildungsgesprächs aus seinem Leben berichten. Mit dieser Veranstaltung wird in der Volkshochschule Trier das Projekt "ehrenamtliche Lese-Lern-Paten" gestartet.Aber "funktionaler Analphabetismus" ist kein Problem von Kindern allein, vielmehr gehört hierzulande jeder Zehnte zur Gruppe derer, die nicht (richtig) lesen und schreiben können. "Bedienungsanleitungen, Produktverpackungen, Beipackzettel - ohne ausreichende Lese- und Schreibkenntnisse wird der Alltag zu einer permanenten Herausforderung. Um zurechtzukommen, brauchen Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten viel Kraft und Kreativität. Oft werden ausgeklügelte Strategien entwickelt, damit das Problem in der Schule, am Arbeitsplatz, im Sportverein, beim Einkaufen, beim Arztbesuch und sogar im Familien- und Freundeskreis nicht weiter auffällt." So beschreibt das Bundesbildungsministerium das Problem. Berlin gibt 20 Millionen Euro20 Millionen Euro stellt Berlin bereit, um mit der Kampagne "Lesen & schreiben - mein Schlüssel zur Welt" auf den Analphabetismus in Deutschland aufmerksam zu machen. Neben Fernseh- und Kinospots gibt es auch eine Wanderausstellung, die ebenfalls in Trier Station macht - als eine von nur sechs deutschen Städten. Am 14. November wird die einwöchige Schau in den Räumen der Volkshochschule (Palais Walderdorff) mit einer Fachtagung und Diskussionsrunde eröffnet. Am gleichen Tag steht dann in der Trierer Fußgängerzone das "Alfa"-Mobil, wo ebenfalls über Analphabetismus informiert wird.In Trier nehmen sich - unter der Leitung von Rudolf Hahn - gleich mehrere Initiativen dieses Themas an. Unter dem Dach des vom Bund für fünf Jahre mit über zwei Millionen Euro geförderten Projekts "Lernen vor Ort" wurde nicht nur eine Struktur für ein Bildungsmanagement geschaffen, sondern auch das im September 2011 gegründete Trierer Bündnis für Alphabetisierung und Grundbildung entstand daraus. Und innerhalb dieses Netzwerks mit 75 Teilnehmern aus Bildung, Wirtschaft und Politik entstanden viele Einzelprojekte, um Menschen mit Lese- und Rechschreibschwäche zu helfen.So wurde zum Beispiel in Trier-West ein Kochkurs angeboten, in dem die Teilnehmer nicht nur lernten, sich gesund zu ernähren, sondern auch, die Rezepte zu lesen. Durch die finanzielle Unterstützung eines Sponsors wurde zudem die "Alpha-Pinnwand" als Online-Plattform installiert, in der sich die Initiativen austauschen können und zudem Informationsmaterial für die tägliche Arbeit mit funktionalen Analphabeten zum Beispiel in Sozialräumen bereitgestellt wird.Obwohl es allein in Trier rund 10.000 funktionale Analphabeten gibt, besuchen jährlich nur rund 50 die kostenlosen Kurse, die zum Beispiel von der Volkshochschule angeboten werden und in der Regel rund zwei Jahre dauern, je nach Grad der Lese- und Rechtschreibschwäche. Dort setzt ein neues Projekt an, für das die Volkshochschule eine halbe Million Bundesfördermittel erhielt und das von heute bis August 2015 läuft - mit Trier als einziger Stadt in Rheinland-Pfalz. Hinter dem Namen arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener verbergen sich vor allem spezielle Schulungen von Multiplikatoren.
Sportvereine werden informiert
So sollen zum Beispiel Betriebsräte oder Trainer/Übungsleiter von Sportvereinen informiert werden, wie man mit funktionalem Analphabetismus im Kollegen- oder Bekanntenkreis umgeht und wie man Betroffene motiviert, etwas gegen die Lese- und Rechtschreibschwäche zu unternehmen. Daneben sollen auch "Lernpaten" geschult werden, die den Betroffenen motivierend zur Seite stehen. "Wir müssen das Umfeld erreichen, wenn wir die Betroffenen erreichen wollen", bringt Rudolf Hahn das Projekt auf einen Nenner. Neben Multiplikatorenschulung und Lernpaten werden spezielle "Lerncafés" eingerichtet, davon sollen auch Arbeitslose profitieren, die so für den Arbeitsmarkt qualifiziert werden können. In der Stadtbibliothek wird zudem eine zentrale Anlauf- und Beratungsstelle für funktionale Analphabeten entstehen. Drei Stellen zur Koordination und zur wissenschaftlichen Aufarbeitung wurden mit den Fördermitteln geschaffen. Extra

Funktionaler Analphabetismus: Davon wird gesprochen, wenn auf Satz- und Textebene auch bei gebräuchlichen Wörtern langsam und/oder fehlerhaft gelesen und geschrieben wird. Die Rechtschreibung, wie sie bis zum Ende der Grundschule unterrichtet wird, wird nicht hinreichend beherrscht. Typische Betroffene vermeiden das Lesen und Schreiben häufig. Quelle: Leo-Studie
Extra: Ergebnisse der bundesweiten Leo-Studie

Die Universität Hamburg hat zum Thema Analphabetismus im Jahr 2011 mehr als 9000 Menschen zwischen 18 und 64 Jahren befragt und getestet. Ergebnis: Rund 14 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung (7,5 Millionen Menschen) in Deutschland sind von funktionalem Analphabetismus betroffen. Nimmt man die Gesamtbevölkerung, liegt die Zahl bundesweit bei ungefähr zehn Prozent. Rund 60 Prozent sind Männer, und funktionaler Analphabetismus (siehe Stichwort im Artikel oben) ist in allen Altersgruppen ungefähr gleich. Bei 58 Prozent der Betroffenen ist Deutsch die Muttersprache. Über 80 Prozent verfügen über einen Schulabschluss, 57 Prozent gehen einer geregelten Arbeit nach, 17 Prozent sind arbeitslos, der Rest sind Rentner oder Hausfrauen. Rund vier Prozent aller in Deutschland lebenden Menschen sind "komplette" Analphabeten. BP

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