"Wildwuchs zulasten der Patienten"

Berlin · In deutschen Kliniken wird auch zunehmend ambulant behandelt. Das ist politisch gewollt. Allerdings hakt es im Zusammenspiel zwischen Krankenhäusern und niedergelassenen Ärzten. Den Nachteil haben die Patienten.

Berlin. Lange Zeit galten die Mauern zwischen ambulanter und stationärer Gesundheitsversorgung in Deutschland als unüberwindbar. Bis heute kommen vergleichsweise wenige Patienten für eine Behandlung ins Krankenhaus, ohne dass sie dort über Nacht bleiben.
Der Anteil der Kliniken an den Ausgaben für die ambulante Versorgung liegt nur bei knapp drei Prozent. In Portugal sind es fast 40 und in Finnland etwa 36 Prozent. Weil viele Doppelstrukturen unnötig Geld kosten, sollen die ambulanten Leistungen auch hierzulande ausgeweitet werden. Durch verschiedene Reformen wurde das ambulante Operieren im Krankenhaus erlaubt, entstanden Notfallambulanzen sowie ein System der ambulanten, spezialfachärztlichen Behandlung.
Aus Sicht von Jürgen Wasem, Medizinprofessor der Uni Duisburg-Essen, besteht das Problem darin, dass solchen neuen Versorgungsformen, weil politisch eher zufällig entwickelt, ein Ordnungsrahmen fehlt. "Das ist fast schon Wildwuchs", meinte Wasem gestern bei der Vorstellung des neuen AOK-Krankenhaus-Reports, der sich mit diesem Thema beschäftigt. So würden identische Leistungen unterschiedlich bezahlt, und es finde auch kein echter Qualitätswettbewerb statt, erklärte Wasem.
Fehlende Spielregeln


Leidtragende sind die Patienten. "Das Fehlen von einheitlichen Spielregeln führt vielfach zu konträren Interessen zwischen Kliniken und niedergelassenen Ärzten", erläuterte Ferdinand Gerlach, Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. Statt einer sinnvollen Kooperation im Interesse des Patienten komme es zu einer ineffizienten Konkurrenz.
"Die Folgen sind Informationsbrüche, Behandlungsfehler, unkoordinierte Diagnostik und Therapie", so Gerlach. "Kaum einer übernimmt für Patienten mit mehreren Krankheiten, die gleichzeitig von verschiedenen Ärzten und Kliniken behandelt werden, die Gesamtverantwortung und schützt sie vor zu viel oder falscher Medizin."
Das Fehlen einheitlicher Regeln führt auch dazu, dass noch zu viel stationär behandelt wird, obwohl es auch mit einem ambulanten Eingriff getan wäre. Laut AOK-Report sind Leistenbruchverschlüsse der häufigste Grund für einen vollstationären Aufenthalt in allgemeinchirurgischen Kliniken. Im Schnitt kommen solche Patienten auf 2,3 Liegetage. In Ländern wie den USA, Kanada oder Dänemark wird diese Erkrankung dagegen in aller Regel ambulant behandelt.
In Deutschland jedoch machen unterschiedliche Vergütungssysteme eine stationäre Aufnahme für die Klinik deutlich attraktiver. Laut Report wären 3,7 Millionen der bundesweit 18,6 Millionen Krankenhausfälle im Jahr 2012 vermeidbar gewesen, hätte der ambulante Bereich den Patienten mit chronischen oder Akuterkrankungen eine hochwertige Behandlung ermöglicht.
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach geht davon aus, dass sich der Trend zur ambulanten Versorgung in Kliniken weiter verstärken wird. In Gebieten mit wenig niedergelassenen Ärzten sei die Trennung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung ohnehin nicht durchzuhalten, sagte Lauterbach unserer Zeitung. "Auch durch den medizinischen Fortschritt können heute ambulante Leistungen erbracht werden, die früher nur stationär möglich waren."
Politischen Nachholbedarf sieht Lauterbach allerdings nicht. So sei es mit dem neuen Krankenhausstrukturgesetz für die Kliniken lukrativer geworden, Patienten ambulant zu behandeln. Auch bei der Notfallversorgung werde das System durchlässiger, meinte Lauterbach.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort