"Wir sitzen alle in einem Boot"

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnt vor einem "Grexit" Griechenlands, weil er auch Deutschland enorm schaden würde. Mit dem Berliner Ökonom sprach unser Korrespondent Stefan Vetter.

Wohl die meisten Bürger sind vom Schuldendrama in Athen nur noch genervt. Sie auch?Marcel Fratzscher: Natürlich, wohl jeder wünscht sich, dass dieser leidige Streit endlich beigelegt wird. Gegenwärtig wird ja nicht um die Sache gerungen, sondern nur darum, wer was gesagt und wer was nicht gesagt hat. Ein absurdes Theater. Sie glauben nicht mehr an eine einvernehmliche Lösung?Fratzscher: Ich glaube an eine Lösung, die nicht Grexit heißt. Natürlich ist die Wahrscheinlichkeit eines Griechenland-Bankrotts größer geworden. Aber damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass alle Seiten realisieren, dass es mit einem Grexit nur Verlierer gibt. Athen will keine neue Reformliste mehr vorlegen. Sind da nicht alle Bemühungen hoffnungslos?Fratzscher: Man ist sich ja nicht völlig uneinig. Auch die griechische Regierung sieht die Notwendigkeit von Reformen. Aber die von den Gläubigern geforderten Rentenkürzungen zum Beispiel lehnt Athen rundweg ab. Wäre so etwas überhaupt sinnvoll?Fratzscher: Ein Land kann nicht permanent über seine Verhältnisse leben. Griechenland gibt 16 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für Renten aus. Das ist deutlich mehr als in vielen anderen Euro-Ländern. Man kann ja bei den Spitzenrenten ansetzen und nicht bei den ohnehin schon sozial Bedürftigen. Wenn ein Grexit käme, würden die Rentner noch viel mehr an Kaufkraft verlieren, weil die neue Währung sofort stark gegenüber dem Euro abgewertet würde. Verglichen mit einem Grexit ist eine Rentenkürzung sicher das kleinere Übel. Scheitert der Euro, scheitert Europa, sagt Kanzlerin Merkel. Wäre der Euro gescheitert, wenn Griechenland zur Drachme zurückkehren würde?Fratzscher: Der Euro könnte scheitern, ja. Was, wenn es zu Ansteckungseffekten kommt? Auch Italien hat riesige Probleme ... Was passiert eigentlich, wenn Griechenland seine Schulden nicht mehr bedient, aber trotzdem im Euro bleiben will?Fratzscher: Die griechischen Banken bekämen weniger Liquidität durch die Europäische Zentralbank, was die griechische Regierung dazu zwingen würde, die EU um weitere Hilfsgelder zu bitten. Das würde Athens Verhandlungsposition deutlich schwächen. Sehen Sie noch einen Ausweg?Fratzscher: Was fehlt, ist ein schlüssiges Konzept mindestens für die nächsten drei Jahre mit Reformverpflichtungen Griechenlands sowie finanziellen und technischen Hilfen. Und Deutschland zahlt brav weiter?Fratzscher: : Die Frage ist, wie wir die Verluste minimieren können. Würden wir jetzt sagen `Schluss`, dann wären für Deutschland auf einen Schlag etwa 70 Milliarden Euro verloren. Aber sind die nicht sowieso weg?Fratzscher: Nicht, wenn Griechenland wieder zu Wachstum kommt. Wir sitzen alle in einem Boot. Entweder wir verlieren alle, und Griechenland wird der Hauptverlierer sein, oder wir gewinnen alle. vetExtra

Angesichts der dramatischen Lage wird in Brüssel über einen Krisengipfel am Wochenende spekuliert. Noch wird aber das Treffen der Euro-Finanzminister morgen in Luxemburg abgewartet. Athens Ministerpräsident Alexis Tsipras sagte, das Land habe nichts mehr zu geben. Die Geldgeber fordern, dass Griechen später in Rente gehen, der Mindestlohn nicht steigt und mehr privatisiert wird. dpa

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort