Wolf im Schafspelz

TRIER. Mit einer ungewöhnlich hohen Haftstrafe endete der Kindesmissbrauchs-Prozess gegen Karl Leo S. aus Bernkastel-Kues. Die jahrelangen Vergehen an seiner Tochter, die zu Beginn der Taten nicht einmal 14 Jahre alt war, bringen ihn für neun Jahre und neun Monate ins Gefängnis – trotz strafmilderndem Geständnis.

Oberstaatsanwalt Hans-Peter Hemmes wird nicht laut. Im Gegenteil: Er bemüht sich um einen sachlich-ruhigen Ton. Aber während er die endlos scheinende Reihe von 369 Missbrauchsfällen aus seiner Anklageschrift vorträgt, blickt er immer mal wieder zum Angeklagten rüber, so als wollte er sich rückversichern, dass der 43-Jährige auch wirklich aufnimmt, was er da vorliest. Unmengen von Einzelvorgängen sind da aufgelistet, zu manchen Zeiten zwischen Januar 2001 und Oktober 2003 fast täglich. Meist im Schlafzimmer des elterlichen Bauernhofs, vor dem Fernseher, auch schon mal im Urlaub oder im Whirlpool des Stadtbades. Wären nicht die Umstände, es klänge nach einem verliebten Pärchen. Nur dass das Opfer ein Kind ist - und der Täter der eigene Vater. Da ist man schon fast dankbar für die gestelzte amtliche Sprache des Anklägers, die die Monstrositäten hinter abstrakten Formulierungen und "durchgeführten Handlungen" versteckt. Der Mann, der gegenüber am Angeklagten-Tisch kauert, hat so gar nichts Monströses. Er vergräbt das Gesicht in seinen Händen, weint, kriegt kaum ein Wort heraus. Bis vor wenigen Monaten war er ein angesehener Winzermeister aus guter Familie, nicht vorbestraft, ganz und gar kein "Aso-Milieu". "Was haben Sie sich dabei gedacht?", fragt der Richter. "Wie konnte es dazu kommen?", rätselt der Staatsanwalt. Fassungslosigkeit allenthalben, zumal angesichts der Tatsache, dass Karl Leo S. seine Tochter sogar schwängerte und zur Abtreibung schickte. Zunächst will der Angeklagte nur eine Erklärung durch seinen Anwalt verlesen lassen, in der er die Taten grundsätzlich einräumt. Das erspart seiner Tochter den demütigenden Auftritt im Zeugenstand. Aber dann lässt er sich doch auf die behutsamen Fragen ein, die vor allem der Ankläger an ihn richtet.Durch sein Geständnis der Tochter die Aussage erspart

Die Geschichte, die er erzählt, beginnt fast alltäglich. S. hat den kriselnden Weinbaubetrieb der Familie übernommen, hält ihn mühsam über Wasser. Seine Frau kümmert sich um die Buchführung. Seit der Geburt des Jüngsten läuft in der Ehe nicht mehr viel, die Mutter tut sich schwer mit der Erziehung, von Schlägen ist im Gericht die Rede. Eines Tages, als S. nach Hause kommt, ist seine Frau mit dem kleinen Sohn weg, hinterlässt ein ziemliches Chaos - und die beiden Töchter, die beim Vater bleiben wollen. Nicole (Name geändert), die 13-Jährige, kümmert sich um vieles. Hilft ihrem Vater im Betrieb, schmeißt den Haushalt, betreut die jüngere Schwester. Und irgendwann drängt der Vater sie auch in eine fast eheähnliche sexuelle Beziehung. Gewalt ist dabei zu diesem Zeitpunkt nicht im Spiel, jedenfalls keine äußerlich wahrnehmbare. Welche psychische Gewalt der Vater seiner Tochter antut, wird erst später deutlich, als die Psychologin befragt wird und von den Ängsten, Albträumen und Gefährdungen der heute 17-Jährigen spricht. "Kann es sein, dass die Nicole sich geopfert hat?", fragt der Ankläger. S. nickt, fast unmerklich. Die sexuelle Annäherung sei nie von seiner Tochter ausgegangen, bestätigt er auf Nachfrage. Ein wichtiges Stück Ehrlichkeit. Wie oft werden ausgerechnet die Opfer bei solchen Verfahren durch die Mangel der Verdächtigungen und Unterstellungen gedreht. Karl Leo S. schiebt seiner Tochter keine Schuld zu. Aber sich selbst vermag er auch nur begrenzt dazu zu bekennen. Immer wieder bricht Selbstmitleid durch: Die erbärmliche Situation zu Hause, die Überforderung, die Sorgen. "Aber das gibt es doch bei anderen auch, ohne dass die sich über ihre Tochter hermachen", wendet der Richter ein. S. weiß keine Antwort. "Es hätte nicht so weit kommen dürfen", sagt er immer wieder. Als wäre ein unvermeidbares Unglück über ihn hereingebrochen. Einen "Wolf im Schafspelz" nennt ihn die Nebenklage-Vertreterin Streit-Stifano, der seiner Tochter "die Kindheit für immer weggenommen hat". Verteidiger Günter Eifel erinnert an das bislang unbescholtene Leben seines Mandanten, bittet um eine Freiheitsstrafe von maximal sieben Jahren, Ankläger Hemmes beantragt neun. Aber die Jugendkammer unter dem Vorsitzenden Rolf Gabelmann geht mit neun Jahren und neun Monaten über die Anträge hinaus. Ohne Geständnis wäre es wohl auf zwölf Jahre hinausgelaufen, lässt der Richter durchblicken. Die jahrelange Dauer, das verantwortungslose Inkaufnehmen einer Schwangerschaft, das Drohen mit dem "Kaputtgehen der Familie", der Versuch, eine Therapie für die Tochter aus Angst vor Entdeckung zu verhindern: lauter Strafverschärfungsgründe. Ob Revision eingelegt wird, bleibt offen.

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