Zahlen aus der dunkelsten Ecke der Kriminalität

Berlin · Jörg Ziercke, Chef des Bundeskriminalamtes, ist eher der Typ sachlicher Beamter. Doch gestern in Berlin bei der Präsentation der jüngsten Zahlen zur Kriminalitätsentwicklung gegen Kinder zeigte der 66-Jährige erkennbar Betroffenheit: "Jeder einzelne Fall ist eine Tragödie."

Berlin. Es sind viele Fälle. 146 Kinder unter 14 Jahren starben 2011 in Deutschland durch direkte oder indirekte Gewalt, 114 davon waren noch keine sechs Jahre alt. Das war zwar ein Rückgang von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr, dafür stieg aber die Zahl der versuchten Morde und Totschläge um 24 Prozent auf 72. Um sechs Prozent gesunken ist die in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik erfasste Zahl der Fälle von körperlicher Misshandlung. Sie betrug zuletzt 4096. Hingegen stieg der sexuelle Missbrauch um 4,8 Prozent auf 12 444 Fälle. Drastisch nach oben, um 23 Prozent auf 3896 erfasste Fälle, ging der Besitz oder die Verbreitung von Kinderpornografie. Da laut Ziercke ein Drittel der Konsumenten solcher Bilder auch Missbraucher sind, verheißt diese Entwicklung Schlimmes. Und bei all dem handelt es sich, so Ziercke, nur um das "Hellfeld". Die Dunkelziffer sei weit höher.
Die Deutsche Kinderhilfe nutzte die Vorstellung der Zahlen zu massiver Kritik an der Politik. Georg Ehrmann, ihr Vorsitzender, erinnerte an die jüngsten Fälle: das tote Baby, das in Stralsund letzte Woche in einem Rucksack gefunden wurde, und das zweijährige Mädchen, das am Sonntag in einer verwahrlosten Wohnung in Spaichingen starb. Im Schnitt gebe es drei getötete Kinder pro Woche - und das schon seit Jahren. "Wenn zum Beispiel Migranten das Opfer solcher Gewalt würden, dann säße längst der Innenminister hier." Doch an tote Kinder habe sich die Politik "offenbar gewöhnt".
Besonders erbost die Organisation, dass alle Gewalttaten trotz eines vorhandenen Systems der Jugendhilfe geschehen. Doch sind die Ämter schlecht ausgestattet, wie die Hochschullehrerin Kathinka Beckmann sagte. Noch immer seien sie davon abhängig, wie viel Geld für ihre Arbeit die jeweilige Kommune übrig habe. Ehrmann wiederum bemängelte, dass die Standards der Betreuung und Kontrolle entweder überhaupt nicht oder nicht einheitlich geregelt sind. So fehle zum Beispiel eine Pflicht zum Hausbesuch im Verdachtsfall durch Jugendamtsmitarbeiter. Das Vier-Augen-Prinzip bei den Kontrollen sei ebenso wenig einheitlicher Qualitätsstandard der Jugendämter wie eine Begrenzung der Fallzahlen für jeden Mitarbeiter. Ein Kind in Bayern habe höhere Lebenschancen als eines in Berlin, wo die Ämter besonders belastet sind.
Beim Sport und in Freizeitheimen müssen ehrenamtliche Trainer und Betreuer weiterhin kein erweitertes Führungszeugnis vorlegen, um frühere Sexualdelikte auszuschließen.
Zahlreiche Verbände der Jugendhilfe und Experten unterzeichneten einen gemeinsamen Appell an die Bundesregierung mit Forderungen für eine "grundlegende Reform".
Ehrmann: "Um das durchzusetzen, brauchen wir den Rückhalt und das politische Gewicht der Bundeskanzlerin."

Extra

Laut Kriminalstatistik wurden 2011 in Deutschland 146 Kinder im Alter bis 14 Jahre getötet (2010: 183; minus 20 Prozent). Es gab 72 versuchte Morde und Totschlagsdelikte (2010: 58). 4096 Kinder wurden misshandelt (2010: 4367), 15 212 sexuell missbraucht (2010: 14 696). Die Polizei registrierte ferner 6332 Fälle des Besitzes und der Verbreitung kinderpornografischen Materials (2010: 5944). dpa

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