Zauberwort Zuzahlung

BERLIN. Der Morgen nahte bereits, als in der Nacht zum Montag die größte Gesundheitsreform seit der Vereinigung in trockenen Tüchern war.

Es war schon weit nach Mitternacht, als sich die Gesundheitsreformer am Zahnersatz festgebissen hatten. Die Verhandlungen in der baden-württembergischen Landesvertretung in Berlin drohten zu scheitern, weil man sich über die Herausnahme des Zahnersatzes aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung nicht einigen konnte. Hilfe kam schließlich von "ganz oben": Nach mehreren Telefonaten der Verhandlungsführer Ulla Schmidt (SPD) und Horst Seehofer (CDU/CSU) mit ihren Vorsitzenden und schließlich zwischen Gerhard Schröder und Angela Merkel selbst war der Durchbruch geschafft.Seehofer sprach nach einer schlaflosen Nacht von den "schwierigsten Verhandlungen, die ich je geführt habe". Er sah aber ganz zufrieden aus, genau so wie Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Was kommt auf die Menschen in Deutschland zu? Nun, vor allem mehr Kosten."Zuzahlung" heißt das Zauberwort. Für Medikamente, für den Arztbesuch, für den Klinik-Aufenthalt, für praktisch alle medizinischen Leistungen muss der Patient künftig zuzahlen: Mindestens fünf, höchstens zehn Euro. Beim Arzt beschränkt sich die Zuzahlung aufs Quartal, im Krankenhaus werden täglich zehn Euro fällig, maximal für 28 Tage im Jahr. Für alle Zuzahlungen wurde allerdings eine Obergrenze von zwei Prozent des Brutto-Einkommens vereinbart. Für chronisch Kranke die Hälfte, Kinder und Jugendliche sind davon befreit. Ferner wurde (unter anderem) beschlossen:Die Versicherten erhalten auf Wunsch eine Patientenquittung.Es wird eine fälschungssichere Gesundheitskarte eingeführt.Der Versicherte kann den Versicherungsumfang selbst wählen.Gesetzlich Versicherte können sich ergänzend privat versichern, was etwa beim Zahnersatz wirksam werden kann, der aus dem Leistungskatalog ausgegliedert wird.Bei entsprechender Vorsorge wird ein Bonus gewährt.Ein Patientenbeauftragter soll als Sprachrohr für die Belange der Patienten dienen.Es wird eine staatsunabhängige "Stiftung für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen" gegründet.Es wird eine Fortbildungspflicht für Ärzte eingeführt.Die komplizierte ärztliche Vergütung wird durch ein festes Preissystem vereinfacht (Regel-Leistungsvolumina).Krankenhäuser werden teilweise für ambulante Behandlungen geöffnet.Nichtverschreibungspflichtige Arzneimittel müssen künftig selbst bezahlt werden.Künftig darf eine Apotheke bis zu drei Nebenstellen haben.Zusätzlich wurden Vereinbarungen getroffen, die eine "Straffung und Entbürokratisierung" der Verwaltung, die Organisationsstrukturen und die Modernisierung des Managements betreffen.Die Union akzeptierte den Vorschlag der SPD über die Aufhebung der paritätischen Finanzierung des Krankengeldes (ab 2007). Im Gegenzug stimmte die SPD der Ausgliederung des Zahnersatzes zu.Über weitere Punkte hatte man sich schon zuvor geeinigt: Sterbe- und Entbindungsgeld werden gestrichen, Brillen nur noch für Kinder und schwer Sehbehinderte bezahlt, künstliche Befruchtungen nur noch unter bestimmten Bedingungen teilfinanziert. Taxikosten für die ambulante Versorgung werden nicht mehr erstattet.Insgesamt, so hoffen die Reformer, kann der Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung so mittelfristig auf rund 13 Prozent (derzeit rund 14,4 Prozent) gesenkt und ein Einsparvolumen von 20 Milliarden Euro erreicht werden. Allerdings meinte CDU-Chefin Merkel, schon in ein paar Jahren müsse erneut Hand angelegt werden.In einem Punkt waren sich SPD und Union nicht einig: Der Kompromiss trage "die Handschrift der Union", betonte Merkel. Ulla Schmidt sah das ganz anders: Die Reform, sagte die Gesundheitsministerin, sei "eindeutig sozialdemokratisch".

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