Zu wüst gelebt

Noch nie seit der Wiedervereinigung war Politik in Deutschland so spannend. Die Geschichte, um die es geht, ist ziemlich banal. Die zwei völlig verarmten Verwandten Rot und Schwarz müssen heiraten. Das ängstlich-unberechenbare Wahlvolk wollte es so.

Im politischen Leben heißt so etwas koalieren. Die Mitgift besteht in beiden Fällen lediglich aus mehr oder weniger durchgerechneten Gedankenspielen. Die Parteien nennen das Wahlprogramm. Keiner der Partner verfügt allerdings über einen einzigen Cent, um all das zu tun, was vor der Wahl versprochen wurde. Im Gegenteil, es drücken riesige Schuldenberge, und an den Rockzipfeln zerrt die bucklige Verwandtschaft aus allen deutschen Landen und Lagern, will Geld sehen oder zumindest keins hergeben. Eine echte Sternstunde für das Riesenheer der Lobbyisten. Die Interessenvertreter aller Lager wissen sich in einer Reihe mit den Herren der leeren Geldbeutel in Ländern, Städten und Gemeinden. Sie fordern und flüstern, drohen und schelten, beeinflussen und lancieren, schmieden Allianzen und versuchen so, schon im Vorfeld das Schlimmste für die eigene Kasse und Klientel zu verhindern. Dabei ließe sich mit dem mutigen Blick über den Tellerrand und weniger Verzagtheit ein tragfähiges Fundament für positive Entwicklungen gießen. Denn noch immer ist dieses Land eines der reichsten der Erde, und noch immer jammern die meisten von uns auf sehr hohem Niveau. Bei allem Kanonendonner, der anderes glauben macht: Es geht um notwendige Korrekturen und nicht um Krieg und Frieden, wenn über Pendlerpauschale, Eigenheimzulage, Gesundheitsreform, Mehrwert- oder Reichensteuer gestritten wird. Der Liedermacher Hannes Wader brachte es in anderem Zusammenhang vor Jahren mal so auf den Punkt: "Wir haben eben zu wüst gelebt, jetzt haben wir den Salat." So ist es, und jeder von uns hat sein Scherflein zu der derzeitigen Situation beigetragen. Und jeder wird dafür bluten müssen, dass es wieder nach vorne geht. Die Kunst der Berliner Hochzeitsgesellschaft besteht darin, am Ende der Verhandlungen die Wunden so gleichmäßig zu schlagen, dass Heilung möglich wird. d.schwickerath@volksfreund.de

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