Zum Abschied die Tränen

BERLIN. Ungewöhnlich emotional tritt Gerhard Schröder auf dem SPD-Sonderparteitag in Berlin als Vorsitzender der Sozialdemokraten ab. Damit gibt er der Partei das, was ihm in den vergangenen fünf Jahren als Chef der SPD häufig gefehlt hat: Herz undPathos.

Solche Auftritte sind noch nie Gerhard Schröders Sache gewesen. Stocksteif steht der Bundeskanzler auf dem Podium an seinem Platz, die Arme hängen schwer nach unten, zwei- oder dreimal nickt er den Delegierten des Sonderparteitages zu und dankt ihnen so für ihren Beifall. Anders als sonst lächelt der Mann nicht, im Gegenteil, er muss sich ein paar Tränen aus den Augen wischen. Das war‘s, die letzte Rede als SPD-Vorsitzender ist gehalten, es war eine 50-minütige Rede der Standfestigkeit. Die letzten Worte haben aber bislang unbekannte Emotionen und Gefühlswallungen hervorgerufen - bei ihm selbst, bei einigen Delegierten und bei seiner Frau Doris, die in der ersten Reihe neben dem Ex-SPD-Chef Hans-Jochen Vogel sitzend ihren Tränen minutenlang freien Lauf lässt. Als ob ihr Mann den Staffelstab noch schneller als geplant an diesem für die Sozialdemokratie historischen Sonntag übergeben will, drängt Schröder seinen Nachfolger Franz Müntefering für einen kurzen Moment mit nach vorn. Müntefering ziert sich, dem Niedersachsen soll der Beifall allein gebühren. Die alte Tante SPD erlebt in zehn Minuten wohl all das, was ihr Gerhard Schröder in den letzten fünf Jahren als Parteivorsitzender nie richtig geben konnte: Viel Herz, etwas Wehmut, ein bisschen Pathos - und so etwas wie ein Wir-Gefühl ausgerechnet anlässlich eines Wachwechsels.Alles auf Aufbruch ausgerichtet

Es ist ein langer Anlauf bis zu diesem emotionalen Höhepunkt des Parteitages, den der Regierungschef damit einleitet, dass er das Amt des SPD-Vorsitzenden in "verdammt schwieriger Zeit" ausgeübt habe. Dass er "stolz" darauf gewesen sei. Und mit einem Kloß im Hals fügt er hinzu: "Gestützt auf die, die mich lieben und die ich liebe." Da werden auch die Augen vieler Delegierter feucht. Alles, was der Kanzler jedoch vorher in seiner Rede geboten hat, spiegelt das konfliktreiche Verhältnis zwischen ihm und der SPD wider. Unnachgiebig zeigt sich Schröder bei den Reformen seiner Agenda 2010, der Applaus der 500 Parteifreunde ist mäßig und zurückhaltend, als er sagt: "Wir halten Kurs. Was beschlossen ist, wird nicht verändert." Gerhard Schröder, der Regierende, analysiert, argumentiert und verteidigt, er ist kein Seelendoktor wie Franz Müntefering. Auch als er die Praxisgebühr mit den Worten verteidigt: "Soziale Gerechtigkeit entscheidet sich nicht an der Frage, ob man im Quartal zehn Euro zahlt", rührt sich kaum eine Hand. Mit diesen Sätzen können viele eingefleischte Sozialdemokraten nichts anfangen. Als der Kanzler hingegen für die Ausbildungsplatzabgabe eintritt und seine ablehnende Haltung zum Irak-Krieg untermauert, packt er die Delegierten - Jubel für den Noch-Vorsitzenden. "Franz ist der Beste, den wir für unsere Partei bekommen können", sagt Gerhard Schröder irgendwann. Und "Münte" ist es, der eine Rose beim Einmarsch in die Halle geschenkt bekommt und nicht der Gerd. "Müntefering ist nervös", verrät ein Vertrauter. Alles ist an diesem Tag auf Zusammenhalt ausgerichtet, auf Aufbruch: Schröder und Müntefering - das neue, alte Duo - tragen sogar farblich die selben Anzüge, dasselbe hellblaue Hemd, dazu eine rote Krawatte. Die Bühne erstrahlt wie im aufgehenden Sonnenlicht, auf einer Leinwand vor Kopf weht die Gründungsfahne der Sozialdemokraten von 1863 mit der Aufschrift "Einigkeit macht stark". Genau das ist auch die Botschaft von Münteferings Bewerbungsrede, bevor er ein historisches Ergebnis einfährt, das noch keiner seiner neun Vorgänger erhalten hat: 95,11 Prozent der Stimmen.

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