Zwischen Anspruchsdenken und Lebensgefahr

Trier · Jeder kennt einen, der schon mal stundenlang in einer Notaufnahme eines Krankenhauses gewartet hat. Das liegt auch daran, dass immer mehr Patienten, die eigentlich kein echter Notfall sind, in die Ambulanzen gehen.

 Was vor der Notfallambulanz Wartende oft nicht mitbekommen: Viele Patienten werden von Notärzten eingeliefert. Oft geht es dabei um Leben und Tod.

Was vor der Notfallambulanz Wartende oft nicht mitbekommen: Viele Patienten werden von Notärzten eingeliefert. Oft geht es dabei um Leben und Tod.

Foto: ARRAY(0x10b0c480)

Trier. Es war der zweite Weihnachtsfeiertag, als Olga Olk für ihre Mutter den Krankenwagen rufen musste. Die ältere Frau hatte Rückenschmerzen, konnte fast nicht mehr gehen. Sie wurde ins Trierer Brüderkrankenhaus gebracht. Dort habe ein Arzt ihre Mutter "oberflächlich" untersucht und mit einem Rezept für ein Schmerzmittel nach Hause geschickt; sie sei kein Notfall, soll der Mediziner gesagt haben. Zu Hause seien die Schmerzen dann schlimmer geworden.Einweisung vom Hausarzt


Am nächsten Tag habe sie eine Einweisung vom Hausarzt geholt und sei mit ihrer Mutter wieder ins Brüderkrankenhaus gefahren, schildert Olk weiter. Nach stundenlangem Warten habe ein Arzt zu ihr gesagt, sie solle sich einen Termin im Wirbelsäulenzentrum der Klinik holen. "Mit den Schmerzen könnte man auch leben", soll er ihr und ihrer Mutter mit auf den Weg gegeben haben.
Es sei keine weitere Untersuchung erfolgt, sagt Olk. Der nächste freie Termin im Wirbelsäulentrum sei erst sechs Wochen später gewesen. Daher habe sie ihre Mutter in ein anderes Krankenhaus gebracht. Dort sei sie dann operiert worden. "Ein einfaches Röntgenbild hätte gezeigt, dass meine Mutter drei gebrochene Wirbel hatte", ärgert sich die Frau aus Welschbillig (Trier-Saarburg).
Es sind Fälle wie diese, die viele Patienten, die in die Notaufnahme der Kliniken kommen, in ihrer Meinung bestätigen, dass sie nicht ernst genommen werden. Oder dass die dort arbeitenden Ärzte überfordert sind. Solche Fälle sind es aber auch, die Markus Baacke, Unfallchirurg im Trierer Brüderkrankenhaus, ärgern. Weil sie eigentlich nicht sein dürften. "Wenn ein Patient zu uns kommt, darf er erst nach Hause geschickt werden, wenn abgeklärt ist, dass er nichts Lebensbedrohliches hat", sagt Baacke, der auch Arzt im seit zehn Jahren bestehenden Zentrum für Notfallambulanz des Brüderkrankenhauses ist. So könne ein Patient mit Rückenschmerzen oder vermeintlichem Hexenschuss Probleme mit der Wirbelsäule haben, aber auch einen Hinterwandinfarkt oder einen Nierenstein. Vordringlich behandelt würden alle Patienten, bei denen lebensbedrohliche Situationen bestünden. Und zwar nach der Vorgabe: "An welchen Erkrankungen stirbt der Patient zuerst?" Eine akute Atemnot wäre zum Beispiel die oberste Dringlichkeitsstufe. In solchen Fällen, erklärt, Baacke, dürfe keine Zeit verloren werden.
Das wiederum führt dazu, dass Patienten, bei denen keine lebensbedrohliche Erkrankung vorliegt, womöglich länger warten müssen, bis sie behandelt werden. Wobei es laut Baacke durchaus Vorgaben gibt, wie lange es dauern darf, bis ein wartender Patient das erste Mal von einem Arzt untersucht wird. Wer mit einem verstauchten Knöchel in die Notaufnahme kommt, sollte spätestens nach zwei Stunden untersucht worden sein.
Ein Problem sei oft das Anspruchsdenken vieler Patienten in der Notaufnahme, sagt Aloys Adler, Pflegedirektor der Trierer Klinik. Viele hätten die Erwartung, sofort und mit allen medizinisch zur Verfügung stehenden Mitteln umfassend behandelt zu werden. Doch nicht alles, was die Patienten als Wartezeit empfänden, sei auch tatsächlich Wartezeit. So könne es schon Mal sechs Stunden dauern, bis ein umfassender Laborbefund fertig sei. Und wenn sich Patienten beschwerten, dass sie nichts zu trinken bekommen, könnte das auch einen medizinischen Grund haben, weil sie nämlich für bestimmte Eingriffe nüchtern bleiben müssten.
Ein Stück weit könne er den Anspruch der Patienten verstehen, sagt der Hausobere Markus Leineweber. Vor allem Ältere seien verunsichert, wenn sie unklare Schmerzen und Symptome hätten, und zögerten den Arztbesuch oft so lange hinaus, bis es nicht mehr gehe. Über 28 Prozent der 32 000 im vorigen Jahr in der Notaufnahme des Brüderkrankenhauses behandelten Patienten waren über 75 Jahre alt - und viele auch demenzkrank. Das spiele auch eine große Rolle in der Ausbildung der Pfleger, sagt Adler. Diese Patienten bedürften "einer besonders eingehenden Zuwendung, die nicht nur die medizinische Beurteilung über mehrere Fachgebiete erfordert, sondern häufig auch eine umfangreichere Diagnostik, als sie in einer Praxis vorgehalten werden kann".
Daher ärgert sich Baacke darüber, dass niedergelassene Ärzte den Kliniken vorwerfen, ihnen Patienten wegzunehmen. "Wir verdienen an einem Notfall nichts, legen eher noch drauf", sagt der erfahrene Unfallchirurg. Laut Deutscher Krankenhausgesellschaft bekommt eine Klinik pro Notfallpatient im Schnitt 32 Euro und das bei Kosten von 120 Euro pro Fall. Trotzdem weise man keinen Patienten ab, sagt Leineweber. Das sagt auch Helga Bohnet, Sprecherin des Klinikums Mutterhaus. Weil man aber mit den Notfällen nichts verdiene, habe die Klinik ein Interesse daran, "dass die Patienten, wann immer es möglich ist, die niedergelassenen Ärzte kontaktieren oder in die Bereitschaftsdienstzentrale der niedergelassenen gehen, wenn die Praxen geschlossen sind."Extra

4 Minuten und 28 Sekunden dauert es einem Mittelwert zufolge, bis in der Notaufnahme nach einer Ersteinschätzung pflegerische Tätigkeiten beginnen - etwa die Verabreichung eines Schmerzmittels. 3 Stunden und 25 Minuten werden im Schnitt für die Pflege aufgewendet. Bis ein Arzt die Behandlung beginnen kann, vergehen im Schnitt 46 Minuten und 55 Sekunden. Die Behandlung dauert im Mittelwert 2 Stunden, 48 Minuten und 37 Sekunden.wieExtra

Notfallpatienten werden nach einem fünfstufigen Ersteinschätzungsverfahren beurteilt, und zwar je nach Beschwerden und Symptomen. Rot steht für lebensbedrohlich, hier darf keine Zeit verloren gehen. Blau bedeutet: nicht dringend, große Eile ist hier nicht geboten. Andere Patienten können aufgrund einer größeren Dringlichkeit auch eher behandelt werden, auch wenn sie möglicherweise später gekommen sind. "Die Behandlungsreihenfolge orientiert sich nicht nach der Reihenfolge des Eintreffens der Patienten, sondern nach der Behandlungsdringlichkeit", sagt Brüderhaus-Sprecherin Anne Britten. wieExtra

"Im Notfall sind durch Krankenhäuser nur solche Maßnahmen zu treffen und abzurechnen, die diesen Zustand soweit beseitigen, bis die normale ärztliche Versorgung wieder in Anspruch genommen werden kann. Der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Rheinland-Pfalz ist bewusst, dass die Krankenhäuser in ihren Notfall-ambulanzen über das zulässige Maß hinaus auch ambulante Behandlungen von solchen Gesundheitsstörungen durchführen, die per Gesetz von den Vertragsärzten geleistet werden müssen. Zum wirtschaftlichen Kalkül der Krankenhäuser gehört es üblicherweise, ungeprüft jede ambulante Behandlung durchzuführen, um das Potenzial an Patienten für die Generierung von stationären Fällen zu erhöhen. Daher überlegen wir, wie die Leistungen der Notfallambulanzen, besonders in Zeiten, in denen die Vertragsarztpraxen geöffnet sind, auf das gesetzlich vorgesehene Maß eingebremst werden können." Rainer Saurwein, Sprecher der KV Rheinland-Pfalz Extra

Bereitschaftsdienstzentralen der niedergelassenen Ärzte gibt es in den Krankenhäusern Bitburg, Daun, Gerolstein, Prüm, Saarburg, Hermeskeil und Wittlich. Dort sind in der Regel von mittwochs bis donnerstags 14 bis 7 Uhr, von freitags bis montags 16 bis 7 Uhr und vor Feiertagen ab 18 Uhr niedergelassene Ärzte, die Notfälle behandeln, in Hermeskeil am Wochenende und vor Feiertagen. Im Trie-rer Mutterhaus Mitte ist der Bereitschaftsdienst erreichbar montags, dienstags und donnerstags ab 19, mittwochs ab 14 und freitags bis montags 16 bis 7 Uhr, vor Feiertagen ab 18 Uhr. wieExtra

Das rheinland-pfälzische Gesundheitsministerium verweist auf ein Urteil des Bundessozialgerichts. Demnach stellt "allein der Wunsch eines Versicherten nach einer ambulanten Behandlung im Krankenhaus verbunden mit der Geltendmachung akuten Behandlungsbedarfs zu den Zeiten regulärer vertragsärztlicher Sprechstunden keinen Notfall" dar. Außerhalb der regulären Sprechstundenzeiten vertragsärztlicher Praxen leisteten die Notfallambulanzen der Krankenhäuser einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der ärztlichen Versorgung. wieExtra

Hauptaufgaben der Notfallmedizin in den Krankenhäusern sind das Erkennen und Behandeln lebensbedrohlicher Zustände, zum Beispiel Herzinfarkt, Lungenembolie, schwere Herzrhythmusstörungen, Schlaganfall, akute Bewusstseinsstörungen oder schwere Verletzungen. Zentrale Aufgabe sei die Einschätzung, wie schwer der Patient erkrankt sei, sagt Anne Britten, Sprecherin des Brüderkrankenhauses. "Dies heißt zu entscheiden, ob ein Patient ambulant behandelt werden kann, möglichst sofort operiert werden muss oder auf einer Intensiv- oder Normalstation weiterbehandelt werden kann." Das bedeute auch, dass ein Patient mit unklaren Symptomen wie Brust- oder Bauchschmerz über längere Zeit zunächst mal überwacht werden müsse. wie

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